Portugiesische Marienkäferinvasion in Polen

Biedronka ist Marktführer im polnischen Lebensmittel-Discounter-Geschäft

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Die führenden Lebensmittel-Discounter agieren nicht erst seit der EU-Osterweiterung in den Beitrittsgebieten. Im Rahmen einer in immer rasanterem Tempo fortschreitenden Internationalisierung des Handels durchsetzen sie mit ihren Marktformaten metastasenartig die Landschaft. Hauptsache billig, inklusive der ganzen Palette an Nebeneffekten. GATS und EU-Dienstleistungsrichtlinie weisen den Unternehmen den Weg: die Gewinne werden auch hier auf dem Rücken der Beschäftigten eingefahren. – Ein Beispiel aus Polen.

Seit Mitte der 1990er Jahre investiert die Gruppe Jerónimo Martins (JM), die in Portugal die Supermärkte von Pingo Doce und die Hypermärkte von Feira Nova kontrolliert, in Polen. Die Marktsättigung in Portugal sowie zunehmende, als unangenehm empfundene Regulierungsversuche durch die Legislative ließen den Blick in die Ferne schweifen. Ein vergleichsweise hohes Wirtschaftswachstum in Polen und erwartete traumhafte Umsatzrenditen taten ihr übriges. Nach anfänglichen Schwierigkeiten aufgrund von Landeseigenheiten (von den 38,6 Millionen Einwohnern Polens leben beträchtliche 38% auf dem Land) und logistischen Problemen ist JM mit der 1998 erworbenen Kette Biedronka ("Marienkäfer") in der Gewinnzone – offensichtlich auch auf Kosten der Mitarbeiter.

Biedronka: Mit "täglichen Tiefpreisen" wurden 2004 1,1 Milliarden Euro umgesetzt

Wie Expresso berichtete, investiert JM weitere 400 Millionen Euro in den Lebensmittel-Discounter Biedronka, der im polnischen Lebensmittel-Einzelhandel mittlerweile marktbeherrschend ist. Bis 2007 sollen 60 bis 80 neue Läden eröffnet werden. Zurzeit gibt es in 400 Orten etwa 730 Niederlassungen – 500 mehr als der zweitgrößte Mitwettbewerber. Beim Kauf 1998 waren es noch 243.

Die Betreiber glauben, dass 2.000 Läden angesichts des Potentials des polnischen Marktes durchaus ein realistisches Fernziel sind; über einen Börsengang wird nachgedacht. Biedronka ist mit 11.000 Beschäftigten Polens neuntgrößter Arbeitgeber. Die an Obsession grenzende Expansion der Biedronka-Kette ist "erste, zweite und dritte Priorität" der Jerónimo Martins- Gruppe, so jedenfalls deren Geschäftsführer Luís Palha im vergangenen Sommer.

Rund 900 Produkte sind im Angebot, darunter auch portugiesische: Wein, Birnen, Erdbeeren, Weintrauben, Orangen, Melonen; Oliven, Olivenöl, Sardinen- und Thunfischkonserven befinden sich in der Markterprobung. 90% der Waren stammen jedoch aus Polen. Polen ist das Hauptbestimmungsland ausländischer Investitionen auf dem europäischen Nahrungsmittelsektor. Auf dem umkämpften Markt finden sich momentan 15 ausländische Gruppen, darunter auch einige der Welt größten Vertriebsunternehmen der Nahrungsmittelbranche.

In Polen gerät JM aufgrund von "Schwarzbuch Lidl"-ähnlichen Beschwerden (Das System Lidl) über die Arbeitsbedingungen und nachfolgende juristisch-arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen immer wieder in die Schlagzeilen. Alexandre Soares dos Santos, Präsident der Administration von JM, wiegelt ab: es gäbe keine Probleme, bei den 11000 Arbeitern gerade einmal 35 Fälle. Die Ergebnisse von Arbeitsinspektionen ergaben jedoch ein anderes Bild.

Die "Vereinigung der Opfer Jerónimo Martins" (SPJMD) hat den Konzern für den Tod einer 21-jährigen Mitarbeiterin im Jahre 2003 verantwortlich gemacht. Ärzte führten die Gehirnblutung auf zu schwere physische Arbeit zurück. Berichte von unbezahlten Überstunden im Großmaßstab machen die Runde. Im Mai 2004 wurde eine Gewerkschafts-Zweigstelle für Biedronka ins Leben gerufen (NSZZ Solidarnosc). Der Fall von Bozena Lopacka, einer ehemaligen Managerin einer Biedronka-Filiale, die die Jerónimo Martins-Gruppe auf Erstattung von 2600 Überstunden verklagte, wird in Polen mit besonderem Interesse verfolgt – auch wegen bekannt gewordener Verfehlungen konkurrierender Discounter.

Für die Medien ist sie ein Star – die Schnittmenge aus Lech Walesa und der Jungfrau von Orléans. Ihre Landsleute diskutieren unterdessen die Folgen von Bozena Lopackas "Aufstand der Supermarkt-Sklaven" für die künftige Entwicklung der Marktwirtschaft in Polen. Unter dem Druck der SPJMD stimmte JM einer 20%igen Lohnerhöhung zu. Im Juni wird über eine Ausweitung des Engagements Jerónimo Martins in Richtung Osten entschieden.