Praxis Nervenarzt Dr. Goetz

Deutschlands große Ausnahmeerscheinung im Internet hört wieder auf

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Man wird ihn vermissen. Wie viele Leser "Klage", das Blog von Rainald Goetz, welches vor anderthalb Jahren in Vanity Fair startete, genau hatte, ist nicht klar. Es dürfte aber keine allzu kleine Schar gewesen sein, die täglich die Adresse einmal aufgesucht hat, um zu sehen, ob er etwas gepostet hat. Hat er nämlich nicht immer, leider. Auch insofern war das kein absolut korrektes Blog. Mal ganz davon abgesehen, dass er keine Kommentare und damit keinen direkten Austausch zugelassen hat und auch nichts verlinkte - auch das sehr goetzig, etwas hinter der Gegenwart her, nicht so richtig netzig, aber auch nicht so wichtig. Wichtig war: Man hat dort, bei Klage, Sätze, Wörter, Ansichten und Hinweise gelesen, die es woanders nicht gibt.

Goetz schaut fern, liest viele Zeitungen und Bücher, ist mit dem Fahrrad und Zug unterwegs, ist bei Kunstmessen, Kunstausstellungen, im Gerichtssaal und in politischen Pressekonferenzen und er schreibt darüber. So benannt kein besonderes Angebot und doch einzigartig. Kritische, von einem feinen Gefühlssystem, einem wachen Hirn und einer Lust am Leben befeuerten Postings zu aktuellen, alltäglichen Erfahrungen und Gegebenheiten gibt es nicht oft zu lesen. Schon gar nicht in einer Sprache, die in ihren besten Momenten funkt und fließt wie ein Munich Disco Stück aus den 1970ern.

Einzigartig, einmal grundsätzlich durch die Tatsache, dass es sich bei Goetz um einen Schriftsteller handelt, dem es mehr um Wahrnehmungen geht als um Geschichten, die ja manches aufheben. Dazu kommt das Sprachgefühl eines Dichters. In die tägliche Praxis übersetzt heißt dies, man durfte Texte erwarten, die ihren Ausgangspunkt bei einer alltäglichen Beobachtung nehmen, die bemerkenswerte Empfindungen und Reflexionen auslöste. Kennt jeder, kann aber nicht jeder, auch keine Berufsschreiber. Beim Glücksfall Goetz gibt's für diese Alltagsmomente eine präzise Sprache, die mit dem Pulsschlag der tatsächlich gesprochenen und verwendeten deutschen Gegenwartssprache lebt, keine abgestandenden Formalismen, keine irgendwie hehren Begriffskostbarkeiten. Dazu gibt es Sichtweisen, die woanders nicht zu finden sind. Wer außer Goetz erkennt hinter dem Verfassungsrichterspruch, der das Verbot des Billerromans Esra bestätigte, eine legitime schöpferische Herausforderung des Rechtes an die Kunst?

Im Glücksfall traf man bei Klage, wie schon zuvor bei „Abfall für alle“, auf eine unkorrumpierte Empfindungsfähigkeit, der man im Alltag sowieso selten begegnet, die aber auch, man hat sich leider daran gewöhnt, auch im Feuilleton nicht üblich ist: nicht-immanente, unorthodoxe, abseitige Kritik an Zuständen, die alle kennen, deren grauenhafte Seiten aber kaum einer so direkt bloßstellen und hinschreiben kann.

Im besten, aber gar nicht so seltenen Fall geschah beim Lesen von Klage etwas, das man von guten Büchern und Filmen kennt: Man freut sich noch mehr am Leben als vorher, man fühlt sich klüger und aufmerksamer und wieder aufs Wesentliche gerichtet: das triumphiernde Ja zu allem Hysterischen und Chaotischen um uns herum, den Pfusch, das Größenwahnsinnige, den Spast und das Schöne, den Himmel über uns, das Licht, die Gerüche um uns herum und die Straße vor den dahinsurrenden Fahrradreifen: Wien, München, Frankfurt, Berlin, ein Fest fürs Leben, möglicherweise.

Handke, der Schrifsteller, der wie kein anderer den Krug, den Baum, die Felder im Text zelebrieren kann, auf dass sie zu echterem Leben erwachen als im RealLife, wäre als Blogger vielleicht ähnlich interessant oder der schon vor längerer Zeit verstorbene Brinkmann oder vielleicht auch der kürzlich verstorbene Rühmkorff. Weil sie, wenn sie Literatur schreiben, das Leben feiern. Und so ist auch der große unerreichbare Gott in Goetzens Welt: das echte Leben. Das ist als Bezugspunkt von allgemeinem Interesse, weil das echte Leben jeder hat und jeder dazu etwas zu sagen hat, wie über das Fußballspiel, und jeder das Scheitern kennt, das mit so einem echten Leben dauernd verbunden ist.

Noch etwas komplizierter wird es allerdings, wenn man auf die Idee kommt, dem echten Leben möglichst einen Text beizustellen, der dem echten Leben so nahekommt, wie kein anderer Text zuvor. Das schafft auch kein Goetz nicht.

Schade, dass sein Soundversuchssystem jetzt wieder eine Öffentlichkeitspause einlegt. Aber er kommt wieder, keine Frage.