Premiermacher Liberaldemokraten?

In Großbritannien könnte es nach der Wahl am 6. Mai eine Koalitionsregierung geben

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Gestern bat der britische Premierminister Gordon Brown Königin Elizabeth II um die Auflösung des Parlaments. Neuwahlen sollen am 6. Mai stattfinden. Bei der Abstimmung werden 650 Unterhaussitze neu besetzt - aufgrund einer Wahlkreisreform vier mehr als bisher. Die absolute Mehrheit für eine Partei liegt deshalb bei 326 Mandaten. Und derzeit gilt Umfragen nach als keineswegs sicher, dass Labour oder Tories diese Anzahl erreichen. Das Ergebnis wäre ein "Hung Parliament" mit der Option einer Minderheits- oder eine Koalitionsregierung.

Zuletzt gab es diese Situation in Großbritannien im Februar 1974, als der damals amtierende konservative Premierminister Edward Heath zwar mehr Stimmen, aber weniger Mandate als die Labour-Partei errang und eine Koalitionsregierung mit den Liberaldemokraten bilden wollte. Allerdings scheiterte er, weil er der Forderung nach einer für die Liberaldemokraten günstigen Wahlrechtsreform nicht zustimmen wollte. Eine Minderheitsregierung unter Harold Wilson schaffte es nicht, parlamentarische Mehrheiten zustande zu bekommen, sodass schließlich im Oktober noch einmal gewählt wurde und Labour eine knappe absolute Mehrheit der Sitze errang.

Nick Clegg. Foto: Liberal Democrats. Lizenz:CC-BY-ND

Auch, wenn in Deutschland teilweise die Meinung herrscht, ein Mehrheitswahlrecht wäre identisch mit einem Zweiparteiensystem und würde Koalitionen deshalb ausschließen, ist dem keineswegs so: Im aktuellen britischen Parlament sitzen Abgeordnete von insgesamt 11 Parteien. Neben den Liberaldemokraten, die vom Wandel der Labour-Partei unter Blair profitierten, sind dies vor allem Regionalparteien - aber auch die Anti-Irakkriegsliste Respect und eine Kampagne zur Wiedereinrichtung einer Notaufnahme im Krankenhaus von Kidderminster konnten jeweils einen Sitz im Parlament erringen.

Die mit Abstand bedeutendste dieser Parteien jenseits von Tories und Labour, die Liberaldemokraten, erhalten derzeit deutlich mehr Medienöffentlichkeit als vor früheren Wahlen. So gibt es beispielsweise das erste Mal in der britischen Geschichte Fernsehdebatten mit drei Kandidaten. Der liberaldemokratische Parteivorsitzende Nick Clegg sprach in seiner Wahlkampferöffnung davon, das es am 6. Mai nicht mehr um die Entscheidung zwischen zwei Parteien gehe, sondern um eine zwischen neuer und alter Politik. Als Beispiele für das Versagen Gordon Browns in den letzten 13 Jahren führte er nicht nur den Finanzcrash samt bislang ausgebliebener Schutzregulierung, die Korruption und den Irakkrieg an, sondern auch die stark gewachsene wirtschaftliche Ungleichheit. Brown dagegen meinte in seiner Parallelansprache, dass man sich auf dem Weg der Besserung befände und deshalb nichts riskieren solle, während Tory-Chef David Cameron in offenbarer Anlehnung an Barack Obama "hope, optimism and change" in den Vordergrund stellte.

David Cameron. Bild: Conservative Middle East Council. Lizenz: CC-BY-SA

Britische Medien gehen derzeit davon aus, dass die Liberaldemokraten, eher mit den Tories als mit Labour koalieren würden. Allerdings dürften die Verhandlungen dazu selbst dann alles andere als konfliktfrei auflaufen, wenn der alte Streitpunkt einer Wahlrechtsänderung ausgeklammert wird: So warben die Tories etwa damit, auf eine geplante Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge zu verzichten und gleichzeitig das Haushaltsdefizit ohne Steuererhöhungen verringern zu wollen. Die Liberaldemokraten kommentierten diese Behauptungen mit der trockenen Bemerkung, dass die Konservativen ihre Wähler offenbar für Trottel halten.

Die Partei, die sich trotz ihrer Mitgliedschaft bei der ELDR in ihren Positionen deutlich von der deutschen FDP unterscheidet, plant stattdessen neben der Senkung von Staatsausgaben auch die Einführung einer so genannten "Mansion Tax", einer Luxussteuer für Grundstücke im Wert von mehr als 2 Millionen Pfund. Im Gegenzug sollen Geringverdiener mit einem Einkommen unter 10.000 Pfund ganz von der Einkommenssteuer befreit werden.

Nigel Farage. Bild: Euro Realist Newsletter. Lizenz: CC-BY 2.0

Als potenziell unwahrscheinlicher als eine Koalitionen einer der beiden großen Parteien mit den Liberaldemokraten gilt eine mit einer oder mehreren der Regionalparteien: Die Scottish National Party und die walisische Plaid Cymru stehen wirtschaftspolitisch nämlich noch weiter entfernt von Tories und Labour als die Liberaldemokraten und die diversen nordirischen Parteien gelten aufgrund ihres Fanatismus in Religionsfragen als eher schwierige Bündnispartner.

Zu unklaren Mehrheitsverhältnissen beitragen könnte auch ein möglicher Erfolg der euroskeptischen UK Independence Party (UKIP), die sich bei der Europawahl im letzten Sommer als zweitstärkste Kraft platzierte. Zwar wird ihr bei den Parlamentswahlen deutlich weniger zugetraut, doch scheint eine Überraschung in dem einen oder anderen Wahlkreis nicht zuletzt deshalb möglich, weil die unter anderem die Sun und die Daily Mail die Aktivitäten der nun mit 13 Abgeordneten im Europaparlament vertretenen Partei in den letzten Monaten durchaus goutierten.

Zustimmung bekam vor allem Ex-Parteichef Nigel Farage, der das "Nichtland" Belgien als Prototypen der EU bezeichnete und den Ratspräsidenten Herman Van Rompuy nicht nur den Willen zur stillen Beseitigung der Demokratie und des Nationalstaats, sondern das "Charisma eines feuchten Lappens" und die "Erscheinung eines niederen Bankangestellten" bescheinigte. Nach Kritik an diesem Vergleich entschuldigte sich Farage dafür - allerdings nicht bei van Rompuy, sondern bei allen Bankangestellten.