Proben für den Aufstand

In zahlreichen Bundesländern protestieren Studenten gegen die geplanten Kürzungen im Hochschulbereich

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Berlins Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur weiß, wie es ist, wenn man nicht an seinen Arbeitsplatz darf. Allerdings liegen Thomas Flierls diesbezügliche Erfahrungen schon einige Zeit zurück. 1985 übte der damals noch nicht 30-Jährige öffentlich Kritik am Abriss der denkmalgeschützten Gasometer am Prenzlauer Berg und wurde zur Strafe von seinem wissenschaftlichen Assistentenposten gedrängt und in die "kulturpolitische Praxis" delegiert. Heute sitzt Flierl für die PDS im Berliner Senat, doch der Wechsel in einen neuen Staat und auf die Seite der Mächtigen hat ihn nicht vor einem eigenwilligen déjà vu-Erlebnis bewahrt.

Am Dienstag besetzten 40 Studentinnen und Studenten das Büro des Senators, um gegen die geplanten Kürzungen der Landeszuschüsse an die Hochschulen zu protestieren, die in den nächsten beiden Jahren 54 Millionen und bis 2009 noch einmal 75 Millionen Euro betragen sollen.

Flierl sah sich schon im Frühjahr einem "bipolaren Spannungsfeld" ausgesetzt, das von der "Notwendigkeit einer drastischen Haushaltskonsolidierung", aber auch von der Erkenntnis bestimmt sei, "dass Haushaltskonsolidierung allein noch kein Ziel nachhaltiger Politik ist."

Seine Besucher, deren Kommilitonen sicherheitshalber auch noch die PDS-Zentrale in Beschlag nahmen, protestierten bis zum Mittwochnachmittag gegen die beabsichtigten Kürzungen und die Einführung von Studienzeitkonten, plädierten aber auch für eine stärkere Selbstverwaltung und stießen wenigstens damit auf die Zustimmung des Senators, der auf eine Räumung durch Polizeikräfte verzichtete und den Dialog nach der Freigabe seines Büros fortsetzen will: "Unsere Deeskalationsstrategie war richtig. Ich bin außerordentlich froh, dass der Protest jetzt von der symbolischen Ebene einer Besetzung zurück in den politischen Raum gefunden hat. Mein Angebot zum Dialog mit den Studierenden gilt", sagte Flierl.

Andernorts verlaufen die studentischen Proteste weniger kommunikativ. Beispiel Hessen. Hier wollte Ministerpräsident Roland Koch (CDU) einen Vortrag über das zweifellos reizvolle Thema "Ist Deutschland noch zu retten?" halten. Doch über 600 Studentinnen und Studenten zogen lautstark gegen die geplante Einführung von Studiengebühren zu Felde und zwangen die Veranstalter, Kochs Rede zur Lage der Nation vorerst abzusagen.

In Niedersachsen, wo die Hochschulen rund 40 Millionen Euro einsparen sollen, traf der Unmut Wissenschaftsminister Lutz Stratmann (CDU), der bei einem Besuch der TU Braunschweig erst durch Sitzblockaden am mühelosen Durchqueren der Räumlichkeiten gehindert und von einer Studentin mit dem Ruf "Sie zerstören meine Zukunft" - nach Angaben seines Sprechers: "tätlich" - angegriffen wurde.

Weit im Süden der Republik versammelten sich bereits in der vergangenen Woche Zehntausende Demonstranten. Wolfgang Herrmann, Präsident der Technischen Universität München und Bernd Huber, Rektor der Ludwig-Maximilians-Universität, sprachen in der "Süddeutschen Zeitung" von einer drohenden "Brandrodung" in der Bildungspolitik. Die Landesregierung hatte zunächst geplant, den Vier-Milliarden-Etat für Wissenschaft und Kunst um 10% zu kürzen. Sogar über die Schließung des renommierten Geschwister-Scholl-Instituts für Politische Wissenschaft wurde öffentlich diskutiert. Aktuell ist nur noch von 5% die Rede, aber auch die sind den Münchner Studierenden verständlicherweise zu viel. Am Dienstag trugen 2.500 im Rahmen eines symbolischen Trauerzuges das bayerische Bildungswesen zu Grabe.

Die studentischen Protestaktionen des Jahres 2003 haben weder die Energie vergangener Jahrzehnte noch ein erkennbares oder auch nur gemeinsames bildungs- und gesellschaftspolitisches Alternativkonzept. Aber ihnen fehlt bislang auch die Militanz mancher früherer Aktionen, so dass ein über Regierungsbeschlüsse hinausgehender Dialog über die Frage, ob in Deutschland nicht am falschen Ende gespart wird, zumindest möglich erscheint. Wenn der Widerstand weiterhin kreativ und gewaltfrei bleibt und langatmig genug ist, um die Politiker unterschiedlichster Parteien an ihre vollmundigen Wahlversprechen zu erinnern, liegt in dem studentischen Aufbegehren zweifellos eine Chance.