Probewohnen im Kopf

Er: Kranführer. Sie: Hausfrau, aufgenommen vor 1980. Bild: Herlinde Koelbl

Vom Wandel des Wohnzimmers - Teil 2

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Das Öffentliche und das Private befinden sich seit je in einem labilen Gleichgewicht, welches den Salon, die Stube oder das Wohnzimmer und deren Interieur bei allem Beharrungsvermögen immer wieder in eine Schieflage brachte. Diese Lage kann aufs Gemüt schlagen. Ging es im ersten Teil um eine Zeitspanne von der ständischen Gesellschaft bis zur Moderne, soll nun ein Rekurs auf die Antike erkunden, ob dieser Raum auch ohne autoritären Charakter eine Zukunft hat.

Teil 1: Die gehäutete Familie

Das Wohnzimmer, ein Krankenzimmer?

Die Wiederanknüpfung ans Bauhaus nach dem Zweiten Weltkrieg misslang zunächst trotz der Bemühungen des Werkbundes und ausreichend guter Designer. Asymmetrische Formen und Ansätze zu anbaufähigen Möbelmodulen in der Küche brachten keinen Durchbruch fürs Wohn-/Esszimmer. Die Mehrheit bevorzugte den "Gelsenkirchener Barock", dunkle Schrankwände und Sitzgarnituren, in denen man versank. Die Kissen bekamen den "exakten Nackenschlag".

Mehr als die anderen Räume machte das Wohnzimmer Front gegen Innovationen. Um so heftiger nahm es den sozialen Wandel in Form von Widersprüchen auf. Gelang es der Hausfrau anfangs noch, regelmäßig den Tisch für alle zu decken, täuschten im Lauf der 50er Jahre "Mother's little helpers" von Maggi-Fondor über Sauce hollandaise bis zu Fertiggerichten vergebens über den Rückgang gemeinsamer Mahle hinweg. Für improvisierte schleunige Mahlzeiten eignete sich besser die Wohnküche, aber sie war im Sozialen Wohnungsbau unterrepräsentiert.

Das Wohnzimmer hatte sich wieder zum verwaisten Kasten aus vier Wänden zusammengezogen und musste peinlich in Ordnung gehalten werden. Es könnten Gäste kommen, eine schwere Bedrohung. Valium sollte, glaubt man den Rolling Stones", zum eigentlichen "Little helper" der Mutter werden, und der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der 1965 "die Unwirtlichkeit unserer Städte" untersuchte, konnte sich bestätigt finden. Das Wohnungselend der Nachkriegszeit war nicht mehr physisch, sondern psychisch. Die zunehmende Enge der Wohnungen und die Dichte der Städte machen neurotisch.

Möbelausstellung 1953 in Erfurt/DDR. Bild: Wittig, , Deutsches Bundesarchiv (183-20816-0154). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Die das Privateigentum umgebenden Zwänge erzeugen einen Anpassungsdruck, der ins Innere der Individuen gewandert ist. Diese können nicht mehr ausweichen. Der "Living room", der nach Mitscherlich (1965) oft ein Drittel der Nutzfläche der Wohnungen ausmacht, hat mit seinem Interieur Fetischcharakter bekommen. Nicht mehr repräsentiert er die Beziehungen von Personen. Diese Beziehungen haben sich zu solchen von Sachen verkehrt, die nur noch in Ordnung gebracht werden können, da sie unberührbar sind.

Darin liegt der relative Konservativismus des Wohnzimmers, selbst wenn der Grundriss flexibel geworden ist und die neue Spezies, der Single, mehr Bewegungsraum hat. Das Ich neigt dazu, sich in diesem Zimmer zu idealisieren. Ich gebe mich so, wie ich meine, dass die anderen mich sehen. Die Möbelindustrie macht mit ihren Einrichtungen Angebote einer Ichidealersetzung, und die Werbeindustrie macht Erhebungen, um zu statistischen Typisierungen zu kommen, zu Deutschlands "häufigstem Wohnzimmer". Das geht so los:

Auf 24 Quadratmetern blauem, mittelflorigem Velour-Teppich finden sich in harmonischer Eintracht ein Ecksofa in L-Form mit Mikrofaserbezug in Eierschale und dazu der passende Sessel. Ein rechteckiger Glastisch bildet den Mittelpunkt der Sitzgruppe und die perfekte Ablagemöglichkeit für die alle 14 Tage erscheinende Fernsehzeitschrift.

Die gemütliche Sitzecke ist ausgerichtet auf das Lagerfeuer der Neuzeit: den Fernseher in der hellen Schrankwand mit Vitrine und offenen Regalen. In einer Ecke ein kleiner Computerarbeitsplatz. Auch dabei: Tischlampe auf Beistelltisch, Deckenfluter und schmiedeeiserner Kerzenständer. Die Tapete ist Rauhfaser mittlerer Körnung, Marke Erfurt. Ausgerechnet Großbildschirme tragen zur Auflösung der Ordnung bei. Sie verlangen zwar eine zentrale Sichtachse zum Couch potatoe, vertragen sich aber nicht ohne weiteres mit der Schrankwand. Es muss gedreht und umgebaut werden.

Das "häufigste Wohnzimmer". Bild: Jung von Matt

Die studentische Zielgruppe fällt aus diesem den Fünfzigjährigen abgeschauten Tableau anscheinend heraus. Nicht nur, dass Wohn- und Arbeitszimmer und gelegentlich auch das Schlafzimmer zusammenfallen, der studentische Wohnstil weist auch mehr Brüche auf. Wem das abgeschmackt vorkommt, der übersieht, dass vieles von Verwandten und Bekannten überlassen ist, einiges selbst gebastelt und anderes vom Trödel besorgt ist. Die Zusammenstellung mag hybrid und der Stil mag Retro sein, aber bietet nicht das Zitat, bietet nicht die Verwirbelung gängiger Muster die Chance, eben diese Muster zu verfremden und damit aufzubrechen? Das Neue ist das Alte, recycled, reloaded und remixt.

Häutungen

Drückt unser Inventar uns aus - oder wir unser Inventar? Kommen die Möbel zu uns oder wir zu ihnen? Das ist ein Repräsentationszyklus, der Virtualisierungsmomente enthält. Warum sich mit dem Transport abmühen, dem leidigsten Teil des IKEA-Erlebnisses? Warum nicht gleich bei IKEA einziehen? Die Zimmer sind dort im Verhältnis 1:1 aufgebaut. Ein Besuch im Kaufhaus wird zum Familientest, aus dem es so schnell kein Entkommen gibt. Die Stimmung ist schon vor dem Einschlafen verkatert. Aus diesem Möbeltraum gibt es kein Aufwachen.

Wohn-/Gästezimmer einer poststudentischen WG. Bild: Weichel

Die Repräsentationsreste des Wohnzimmers drehen sich heute nicht mehr um die Sorge, ob Verwandtschaft zu Besuch kommt, sondern die Frage lautet: "Kommen wir jetzt im Internet?" Dem Team von Google home view ist es nonchalant gelungen, in die meisten Wohnzimmer vorzudringen. Die Innenwelt der Außenwelt...

Was die Widersprüchlichkeit des Wohnzimmers heute noch ausmacht, ist der Gegenbegriff "Gemütlichkeit", gegen die Mitscherlich nichts einzuwenden hätte, wenn sie nicht Rückzug und Erstarrung bedeutete. Tagträumerisch werden Entwicklungen verschlafen, die außen stattfinden. Lofts, Maisonette-Wohnungen und Penthouses haben freie Grundrisse, die anpassungsfähig sind an die Patchwork-Biographie. Wohnungen sind Lebensabschnittspartner geworden. Für Studenten werden Container übereinandergestapelt, Häuser schwimmen auf Gewässern, Wohnkuben lassen sich über Land mitnehmen. Die Wohnung als Rucksack - oder als schwerelose Blase wie das Küchenlabor von raumlaborberlin. Überall aufblasbar, den Rhythmus der Stadt atmend, oder auch platzend wie das Finanzkapital.

Biedermeierliches Wohnzimmer, um1820

Was heute im Hinblick auf Realisierbarkeit entworfen wird, war in den wilden 60er (und 70er) Jahren phantastische Erfindung. Bubbles und wuchernde Zellen kamen auf, wandernde Städte und "tragbare Wohnzimmer". Kapseln an Tragwerken aus Röhren formten sich zu Organismen, welche die Grundfeste der Architektur, die Schwerkraft, auflösten. Die utopischen Entwürfe etwa von archigram, Buckminster Fuller und Haus-Rucker-Co reagierten auf die bemannte Raumfahrt. Die Revolution der 60er Jahre ging von der Pneumatisierung, dem Ein- und Ausatmen des Raumes aus. Dieser weitete sich, so dass Städte wie Raumstationen ins Weltall ausschweifen konnten, und er verengte sich zugleich zur Wohnung als technisch hochgerüstetem Raumschiff. Und noch enger: Die zweite Haut, die Kleidung, und die dritte Haut sind zum eigenen pneumatischen Raumkörper des bewegten Menschen geworden. Die Emigration der 30er Jahre hatte es schon angebahnt: Leben aus dem Koffer.

Wie in vorhergehenden Aufbruchszeiten waren Städtebau, Architektur und Inneneinrichtung zum Design verschmolzen. In Verner Pantons Visionen waren es Zimmer und Polster, die zu einer einzigen Phantasy Landscape verschmolzen. Die jedwede Tektonik, Wand und Decke aufhebenden Formen und die psychedelischen Farben geleiten den Besucher zu einer Reise nach innen. Müßig zu sagen, dass es sich bei den die Wahrnehmung erweiternden Polstern ebenso wie bei LSD um Kunststoffe handelt.