Putin lobt "neurussische Volkswehren"...

...und der Westen überlegt Reaktionen auf die neue Lage in der Ukraine

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Die militärische Lage im Osten und Südosten der Ukraine hat sich gegen die ukrainische Armee und verbündete paramilitärische Truppen entwickelt; anscheinend sind sie an mehreren Orten eingekesselt. Im Hintergrund laufen die Telefone heiß. Nach außen werden Appelle lanciert. Die ukrainische Führung macht die Hilfe aus Russland für die Wende verantwortlich und sucht mit dringend gefassten Appellen Hilfe beim Westen, bei den USA und der EU. Obama und Merkel geben sich zurückhaltend, schärfere Töne kommen aus ihrer politischen Umgebung. Russlands Führung bestreitet jede Einmischung; Präsident Putin verleiht seiner Anerkennung der Volksmilizen im Osten der Ukraine doppelten Ausdruck. Wie wird der Westen auf die neue Lage reagieren?

Das Blatt hat sich gewendet. Das ist auch der Stellungnahme des russischen Präsidenten von gestern Abend zu entnehmen: "Es ist klar, dass die Milizen einen großen Erfolg gegen die Kiewer Militäroperation errungen haben."

Schachspieler Putin

Beachtenswert ist, wie heute auch Berichte im Westen hervorheben, ist, dass Putin sein Statement an die "neurussische Volkswehr" adressiert hat. In der englischen Übersetzung, offiziell autorisiert, heißt es wörtlich: "Novorossiya militia". Dass Putin den Begriff "neurussisch" verwendet und damit die Sprachregelung der Gegner der Kiewer Regierung ist eine symbolische Unterstützung, die den Lack der Unparteilichkeit und Zurückhaltung, mit dem Putin sonst Aussagen zum Konflikt in der Ukraine umgibt, etwas aufreißt.

Darin zeigt sich, für jeden, der sich dies im Osten der Ukraine erhofft, eine Parteinahme. Die kollidiert mit der Botschaft, in der Putin zum Thema Konfliktlösung betont, dass es sich um eine rein innenpolitische Angelegenheit der Ukraine selbst handele. Doch ist Putin gewitzt genug, um daraus kein Dilemma zu machen: Er streicht die Opfer der ukrainischen Militäroffensive heraus, die humanitäre Katastrophe im Osten der Ukraine, die Russland nicht gleichgültig lassen kann. Parallelen zu Interventionsbegründungen westlicher Länder sind offensichtlich.

PVladimir Putin, 2006. Bild: kremlin.ru/CC BY 3.0

Zunächst appelliert Putin an die Volkswehr-Miliz - ganz im Sinne des Westens, der ihn immer wieder dazu auffordert seinen Einfluss geltend zu machen: Sie sollten Korridore öffnen, um den Soldaten der ukrainischen Armee den Abzug aus Kesseln zu ermöglichen. Darin steckt eine interessante Pointe, die zu Vergleichen mit Situationen in Syrien anregt, wo sich die russische Außenpolitik ausdrücklich gegen die Einrichtung von humanitären Hilfskorridoren ausgesprochen hat, mit dem - berechtigten - Hinweis darauf, dass sich aus solchen Öffnungen Möglichkeiten für militärische Interventionen ergeben. Damals war das Misstrauen gegen die westlichen Länder groß, die solches forderten, weil sie deutliche Regime-Change-Absichten in Syrien verfolgten.

Nur Hilfe von "Urlaubsgästen"?

Nun ist das Misstrauen im Westen gegen Putins Absichten in der Ukraine groß. Das wird bei den Diskussionen und den Widerstreben über und gegen den zweiten Hilfskonvoi erneut aufleben. Putin kündigte in seiner Erklärung an: "Für seinen Teil ist die russische Seite bereit und willens, humanitäre Hilfe an die Bevölkerung im Donbass zu liefern, die von der humanitären Katastrophe bedroht ist."

Dass humanitäre Hilfe in den umkämpften Städten im Osten der Ukraine bitter nötig ist, zeigen Bilder und Kurznachrichten, wie sie etwa beim unermüdlichen britischen Journalisten Graham W. Phillips zu finden sind. Er macht aus seiner Sympathie für die Einwohner und seiner Antipathie gegen die ukrainische Anti-Terror-Operation keinen Hehl, es bleibt, wie immer in diesem Konflikt, dem Leser überlassen, sich eine eigene Einschätzung daraus zu bilden. Die Kriegsspuren und die Not sind unübersehbar.

Putin hatte schon einen schlechteren Stand. Längere Zeit war in Foren und Nachrichtenkanälen, die sich als Anti-Kiew ("Junta") und solidarisch mit den Forderungen der "neurussischen Gruppierungen" verstanden, die bange Frage zu lesen, ob denn aus Russland Hilfe käme und wie sie aussehen könnte. Nun hat sich das Blatt geändert - welcher Art die russische Hilfe genau war, ob es nur Hilfe von Urlaubsgästen war oder sehr viel mehr, wie die Kiewer Regierung, die Nato, die USA, die EU und andere unterstellen, ist nicht eindeutig.

Kiew in Not

Klar ist aber, dass Kiew in Bedrängnis geraten ist und den Westen in Anspruch nimmt. Ungefiltert ist das wie immer in Kommentaren zu lesen, wie etwa in der Kiyiv Post, wo davon die Rede ist, dass die Kiewer Regierung nun massiv mobilisieren und die Gesellschaft militarisieren muss, weil man im Krieg ist. Der Westen müsse Waffen liefern. Bemerkt wird jedoch, dass die Signale für die Bereitschaft dazu noch ausstehen. "Die Guten" könnten nur gewinnen, wenn der Westen aufwache.

Solche Appelle spiegeln sich - leicht für den öffentlichen politischen Sprachgebrauch modifiziert - auch in den offiziellen Erklärungen der Kiewer Führungspitze wieder, ob es nun um die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, mit der - wie lange gültigen? - Einschränkung auf den Einsatz der Wehrpflichtigen außerhalb der Anti-Terror-Operation geht oder um Bitten um westliche Waffenhilfe seitens des Präsidenten Poroschenko, der gestern forderte, dass sich man sich besonders um die Ukraine kümmere. Auf der Webseite des Präsidenten ist zu lesen:

Unser Staat zählt auf die Hilfe der USA, insbesondere indem man den speziellen Status der Ukraine als Hauptalliierter der USA außerhalb der Nato garantiert.

US-Präsident Obama reagierte gestern betont zurückhaltend, von einer "Invasion" sprach er nicht, sondern von einer nun offeneren Form der russischen Verletzungen der ukrainischen Souveränität. Imgrunde sei das nur eine Weiterführung dessen, was schon seit Wochen zu beobachten war, wird Obama zitiert, schärfere Äußerungen überließ er seinen Mitarbeitern.

"Russland verletzt die Grenzen" - der Westen denkt über die Folgen nach

Auch Kanzlerin Merkel, die mit Obama telefonierte, zeigt sich laut der Erklärung von Regierungsprecher Seibert noch zurückhaltend:

Bundeskanzlerin Angela Merkel und der amerikanische Präsident Barack Obama haben am Abend die Lage in der Ukraine erörtert. Sie äußerten sich sehr besorgt zu zahlreichen Meldungen über den Zustrom weiterer russischer Soldaten und russischen militärischen Geräts in den Südosten der Ukraine. Mit diesem Zustrom werde die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine weiter ausgehöhlt.

Allerdings wird auch darauf hingewiesen, dass über Folgen nachgedacht wird:

Die Bundeskanzlerin und der Präsident waren sich einig, dass ein solches Verhalten nicht folgenlos bleiben dürfe. Die Bundeskanzlerin bestätigte dem Präsidenten, dass sich der Europäische Rat am Samstag, den 30. August, mit der Situation befassen werde. Die Bundeskanzlerin unterstrich, dass sich die Bundesregierung weiterhin für eine diplomatische Lösung des Konflikts einsetzen werde.

Wie die Folgen aussehen sollen, ist noch offen. Schaut man sich die abschließenden Absätze der vollständigen Stellungnahme der US-UN-Botschafterin Samantha Power im UN-Sicherheitsrat an, so wird ersichtlich, dass trotz der Ruhe in der US-Führungsspitze gestern und heute, deutliche Maßnahmen zu erwarten sind.

Darin ist die Bedrohung, die von Russland ausgeht, das keine Grenzen akzeptiert und damit gegen internationale Abkommen verstößt, das Leitmotiv. Es wird hingeführt auf die Frage: "Wie können wir den Ländern (also nicht der Ukraine alleine, Einfg. d. A.), die an Russland grenzen, ihre Souveränität und Frieden garantieren, wenn wir die Botschaft aus der Ukraine nicht hören?".

Die Erklärung endet mit dem Satz:

Angesichts dieser Bedrohung sind die Kosten des Untätigseins unakzeptabel.

Freilich ist Rhetorik im Spiel, aber es zeigt sich auch, dass sich die USA und die EU mit ihrer hastigen, schlecht überlegten, Erfahrungen ignorierenden - und Russland gegenüber hochmütig agierenden - Politik in ein Dilemma manovriert haben. Jetzt wird daraus eine Situation, bei dem die Sorge um den Gesichtsverlust die nächsten Züge deutlich bestimmt. Kein guter Ausblick.

Da der Westen die Möglichkeit einer Teilung des Landes nicht zulassen will, geht der Konflikt wahrscheinlich in die nächste Eskalationstufe.