Real oder nicht real?

Die Quantenphysik revolutioniert unsere Vorstellung von der Realität

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Wir gehen davon aus, dass die Wirklichkeit grundsätzlich da ist, ob sie nun gerade jemand beobachtet oder nicht. Die Quantenphysik bringt dieses Weltbild ins Wanken. Anders formuliert: Was ist wirklich da, wenn keiner schaut? Ein neues Experiment von Wiener Physikern stellt unser Konzept von Realität erneut in Frage.

Verschränkung ist einer der Zustände der Quantenwelt, der unser herkömmliches Konzept der Wirklichkeit sprengt. Bild: Universität Wien

Wenn der gesunde Menschenverstand sich mit der Quantenphysik konfrontiert sieht, wird ihm leicht schwindelig. Oder wie Niels Bohr es formulierte: "Diejenigen, die nicht schockiert sind, wenn sie zum ersten Mal mit Quantenmechanik zu tun haben, haben sie nicht verstanden."

Den meisten Menschen fällt es schwer zu verstehen, von was die Quantenphysiker reden, obwohl wir ihre Erkenntnisse ständig praktisch nutzen, zum Beispiel in Form des CD-Players. Gleichzeitig stellen diese Erkenntnisse in Frage, was wir als Fundament unseres Seins annehmen: eine Welt da draußen, die wir versuchen zu verstehen. Eine Welt, die da ist, unverrückbar und klar bestimmbar. Sie ist auch da, wenn keiner guckt, total real. Und die Wissenschaft hilft uns, diese Welt zu sehen und zu begreifen, Stückchen für Stückchen. Aber dann kommen die Quantenphysiker und alles beginnt zu bröckeln.

Es entspricht unserer alltäglichen Erfahrung, dass die Objekte um uns herum ganz bestimmte Eigenschaften besitzen und zwar kontinuierlich, ob wir nun gerade hinschauen oder nicht. Ein Baum ist ein Baum, er hat einen braunen Stamm und grüne Blätter und seine Wurzeln halten ihn an einem ganz bestimmten Ort in der Erde fest. Geht ein kleiner Wind, so bewegen sich seine Zweige vielleicht ganz leicht, aber wenn wir ihn ansehen, uns abwenden und ihn danach wieder betrachten, wird er seine grundlegenden Eigenschaften beibehalten haben.

Also gehen wir davon aus, dass er da ist und zwar genau in dieser Form, an diesem Ort – ob wir ihn nun beobachten oder nicht. So setzen wir unser Bild von der Welt aus Objekten zusammen, von denen wir annehmen, dass sie Bestandteile der Realität sind, egal ob wir ihnen nun Aufmerksamkeit widmen oder nicht.

Die verrückte Welt der Quanten

Die Wirklichkeit wird bestimmt von den Regeln der Physik und bis die Quantenphysiker kamen, war auch alles in Ordnung. Denn die klassische Physik, inklusive der Relativitätstheorien von Albert Einstein baut auf die Prinzipien von Realismus und Lokalität. Realismus heißt, dass es eine externe Realität gibt, auch wenn keiner beobachtet oder misst, ganz unabhängig vom neugierigen Menschen. Der Begriff der Lokalität besagt, dass zwei weit von einander entfernte Objekte sich gegenseitig nicht beeinflussen. Aber die Quantenphysik wirft die verhängnisvolle Frage auf: Ist der Mond tatsächlich da, wenn niemand hinsieht?

Im Anfang stand die Erkenntnis, dass Licht sowohl aus Wellen als auch aus Teilchen besteht (vgl. Die historische Entwicklung der Quantenmechanik). Schnell wurde klar, dass sich nicht nur Lichtquanten unserer Vorstellung von klaren und jederzeit deutlich unterscheidbaren Eigenschaften entziehen. Die Welt der kleinsten Teilchen weist eine Unschärfe auf, die paradox wirkt. Das berühmteste Beispiel ist die Schrödinger Katze, die gleichzeitig tot und lebendig ist (vgl. Stabile Schrödinger-Katzen). Ein unangenehmer Zustand – für die Katze, aber auch für unser Verständnis von Logik.

Kein Wunder, dass unter den Quantenphysikern eine Debatte darüber tobt, wie diese Erkenntnisse gedeutet werden sollten. Verschiedene Schulen vertreten verschiedene Ansätze, dazu gehören die Kopenhagener Schule (vgl. Angriff auf Kopenhagen?) und die Viele-Welten-Theorie (vgl. Unendlich viele Weltenblasen und Doppelgänger).

Einer der bekanntesten Quantenphysiker der Gegenwart, Anton Zeilinger von der Universität Wien, ist Anhänger der Kopenhagener Deutung. Er ist schon lange überzeugt: „Es stellt sich letztlich heraus, dass Information ein wesentlicher Grundbaustein der Welt ist. Wir müssen uns wohl von dem naiven Realismus, nach dem die Welt an sich existiert, ohne unser Zutun und unabhängig von unserer Beobachtung, irgendwann verabschieden.“ (vgl. Telepolis-Interview).

Spukhafte Fernwirkung und eindeutige Eigenschaften

Zeilingers Forschungsgruppe stellt nun erneut unsere Vorstellungen von Wirklichkeit in Frage. In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Nature) veröffentlicht ein Team um Simon Gröblacher) die Ergebnisse eines neuen Experiments zur Lokalität (vgl. An experimental test of non-local realism).

Die Wiener gingen der Frage nach, ob es genügt, das Prinzip der Lokalität zu verletzen, um in der Welt der Quanten zu bestehen (die meisten Physiker gehen bislang davon aus). Seit den 60er Jahren ist bekannt, dass verschränkte Teilchen gegen diese Prinzipien verstoßen (vgl. Bell's Theorem). Verschränkung bedeutet, dass ein Paar Photonen durch die Messung die gleichen Eigenschaften besitzt, auch über große Entfernungen. Wird ein Photon eines solchen verschränkten Paares in seinen Eigenschaften verändert, dann ändert sich auch das zweite, weit entfernte Photon. Albert Einstein entdeckte diesen Effekt bereits 1935 und er nannte ihn eine "spukhafte Fernwirkung".

Die Gruppe um Simon Gröblacher stellte sich die Frage, ob die Annahme der Lokalität oder die des Realismus in der Quantenwelt verworfen werden muss. Sie gingen dabei von einem theoretischen Ansatz aus, der vom Nobelpreisträger Anthony J. Leggett stammt und besagt, dass gewisse Eigenschaften, wie etwa der Spin eines Elektrons oder die Polarisation eines Photons, nicht gleichzeitig immer exakt definiert und mit einem entfernten Partnerteilchen nach den Regeln der Quantenphysik verbunden sein können (vgl. Nonlocal Hidden-Variable Theories and Quantum Mechanics).

Die Forscher verwendeten dazu im Experiment Photonenpaare mit verschränkter Polarisation. Die gemessene Polarisation an einem der Teilchen war also immer mit dem Messergebnis am Partnerteilchen korreliert. Laut der Theorie von Leggett sollten ganz bestimmte Messergebnisse (d.h. Ergebnisse von Polarisationsmessungen entlang ganz bestimmter Richtungen) selbst für nicht-lokale realistische Eigenschaften (hier: Polarisation) nicht mehr nachvollziehbar sein. Es zeigte sich allerdings, dass es nicht genügte, auf die Annahme der Lokalität zu verzichten. Die Messergebnisse verdeutlichten, dass zumindest Anteile des Realismus aufgeben werden müssen, um nicht in Widersprüche zu geraten.

Co-Autor Markus Aspelmeyer erläuterte gegenüber dem ORF: „Es scheint nicht zu gehen, eine fixe Polarisation zu messen und gleichzeitig eine beliebig starke Fernwirkung zu haben. Hält man am Konzept der Nicht-Lokalität fest, müssen meine realistischen Annahmen falsch sein. So einfach, wie wir es uns vorstellen, ist es nicht, man muss wohl notwendigerweise Einschränkungen an der Realität vornehmen. (…) Da wird in nächster Zeit sicher einiges passieren, künftig werden wir wohl genauer sagen müssen, was wir unter Realismus verstehen."

Die Gegebenheiten der Quantenwelt, der Welt des Allerkleinsten unserer Realität, zwingen uns, unser Konzept von Wirklichkeit gründlich zu überdenken. Und der gesunde Menschenverstand ist möglicherweise auch nicht mehr als „eine Anhäufung von Vorurteilen, die man bis zum 18. Lebensjahr erworben hat“ – das soll zumindest Einstein gesagt haben. Vielleicht sollten wir ihn gleich zusammen mit dem klassischen Realismus grundsätzlich in Frage stellen.