Reden ist Gold

Im Weltraum-Epos "Mass Effect 2" ist Sprache immer noch die beste Waffe

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Als Bioware-Chef Ray Muzyka bei den ersten Präsentationen von "Mass Effect 2" das Wort "Shooter-RPG" fallen ließ, waren viele Fans skeptisch. Würde der zweite Teil des erfolgreichen Weltraum-Abenteuers eine neue Richtung einschlagen - weg vom Rollenspiel, hin zum Ballerspiel?

Bestätigt fühlten sich die Skeptiker durch Aussagen von Projektleiter Casey Hudson. "Die Welt entwickelt sich weiter mit Spielen wie Call of Duty: Modern Warfare 2", so Hudson, "wir müssen das Kampfsystem von 'Mass Effect 2' so gestalten, dass es sich mit dem Besten da draußen messen kann." Damit war klar: "Mass Effect 2" sollte auch die riesige Shooter-Zielgruppe bedienen. Selbst Hudsons Beteuerung, ME2 sei "immer noch ein RPG", konnte den Aufruhr in den Foren nicht bändigen.

Ende Januar hatten die Spekulationen dann ein Ende: Commander Jack Shepard trat seine zweite Weltrettungsmission an. ME2 beginnt mit einem erzähltechnischen Befreiungsschlag: Die Eingangssequenz zelebriert genüsslich die Zerstörung des alten Raumschiffs und den Exitus des Helden. Bei einem Angriff auf die SSV Normandy wird Shepard in die Leere des Weltraums katapultiert und erleidet einen grausamen Erstickungstod. Sein lebloser Körper schwebt friedlich über der sonnendurchfluteten Atmosphäre eines fremden Planeten, und es fehlt eigentlich nur noch, dass aus den Tiefen des Alls die Doors-Hymne "The End" erklingt. Aber natürlich darf Shepard weiterleben: Sein Körper wird von der obskuren Organisation Cerberus geborgen und in einem mühsamen, zwei Jahre währenden Prozess rekonstruiert. Und Bioware schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: ME2 wird als actionlastiges Rollenspiel etabliert und gleichzeitig von dem erzähltechnischen Ballast befreit, den eine direkte Verknüpfung mit dem Vorgänger bedeuten würde. Wer will, kann allerdings seinen Heldencharakter aus dem ersten Teil importieren, was im Verlauf der Handlung zu interessanten Wechselspielen mit früheren Geschehnissen führt.

Viele der Herausforderungen, die das Sequel mit sich bringt, löst Bioware mit lässiger Eleganz: Die Entwicklung der Charaktereigenschaften wurde verschlankt, die Team-Steuerung im Kampf vereinfacht, die Reisen zu entfernten Galaxien anschaulicher gestaltet. Auch die Waffen müssen nicht mehr vor jeder Mission für alle Squad-Mitglieder einzeln festgelegt werden. In manchen Details geht die Verschlankung allerdings ein Stück zu weit: Das Hacking-Minigame ist nur noch ein simples Memory, und das Scannen der Planeten auf Bodenschätze wirkt in seiner Monotonie auf Dauer sehr ermüdend. Dennoch macht Bioware das Meiste richtig, sogar richig gut: Fehlte den Haupt- und Sidequests im ersten Teil noch häufig die Trennschärfe, so sind sie jetzt viel klarer strukturiert, ihr Abschluss wird durch einen "Mission complete"-Screen signalisiert.

Die Sorgen, ME2 könnte allzu sehr in modern-warfare'sche Gefilde abdriften, verflüchtigen sich im übrigen schnell. Trotz des explosiven Beginns wird sehr schnell klar, dass die Dialoge nach wie vor das Rückgrat des Spiels bilden. Selten hat ein Spiel allein beim Zuhören so viel Spaß gemacht wie ME2. Das liegt nicht nur an den exzellenten Synchronsprechern, sondern auch an der ungeheuren Informationstiefe: Sage und schreibe 31.000 Zeilen Dialog will Bioware auf die 546 Charaktere verteilt haben. Ähnlich wie beim Fantasy-Pendant Dragon Age: Origins kann der Spieler stets selbst bestimmen, wie tief er in die Materie einsteigt. Er tut sich aber keinen Gefallen, wenn er die scheinbar nebensächlichen Gespräche beiseite lässt: Nur in der Rolle des großen Kommunikators bekommt man einen Eindruck von diesem Universum, das von zahllosen Interessenskonflikten durchzogen ist. ME2 ist ein Fest der Sprache, das den Shooter-Lärm mit Leichtigkeit übertönt: Worte sind hier immer noch die besten Waffen - wenn es nicht gerade gegen tumbe Mechs geht.

Edge-Autor Chris Dahlen hat ME2 treffend als Familienveranstaltung beschrieben: "Der Weltraum mag gewaltig und die Zukunft furchterregend sein, aber wenigstens haben wir immer noch uns." Tatsächlich verbringt man einen Großteil der Spielzeit damit, neue Verbündete zu finden und ihnen bei ihren - kleinen oder großen - Problemen behilflich zu sein. "Let's talk about you" lautet der Schlüsselsatz, mit dem Shepard in die seelischen Tiefen seiner Crew-Mitglieder vorstößt. Fast scheint es so, als sei die Haupthandlung nur Kulisse für die kommunikative Schauspiel. Zu den Highlights gehören ohne Zweifel die Gefangene "Jack", deren martialisches Erscheinungsbild nur noch von ihrer Sprache übertroffen wird, und der Alien-Wissenschaftler Mordin, der seine zweifelhafte Moral durch unaufhörliches Geplapper übertönt.

Das Moralsystem von ME2 ist aus dem ersten Teil bekannt: Zwei separate Skalen messen die altruistischen und eigennützigen Handlungen, die wiederum Auswirkungen auf das weitere Geschehen haben. Eine interessante Neuerung ist, dass die Moral bis in die Sprache hineinreicht: In bestimmten Momenten kann der Spieler eine Diskussion per Tastendruck spontan an sich reißen und abkürzen. Ob dieses "Machtwort" altruistisch oder eigennützig ist, hängt von Shepards moralischem Profil ab. Bioware will mit dem neuen Spielelement den Action- und den Rollenspiel-Part näher zusammenbringen. In der nach wie vor recht starren Struktur des Dialogbaums wirkt das "Machtwort" jedoch wie ein Fremdkörper. Man darf gespannt sein, ob es im bereits angekündigten ME3 noch einmal auftaucht oder durch neue Einfälle ersetzt wird.

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