Regulierungsüberdosis

Der Fall eines Marihuana konsumierenden Polizisten zeigt, wie sehr Rechtsordnung und Alltagswirklichkeit in den USA mittlerweile auseinanderklaffen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Was bisher eher als Verschwörungstheorie kursierte, bestätigte sich nun in Dearborn, Michigan: Ein Polizist beschlagnahmte Marihuana bei einem Verdächtigen – nur um es dann selbst zu konsumieren.

Das Bild Chocolate brownies without table stammt aus der freien Mediendatenbank Wikimedia Commons und steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation. Der Urheber des Bildes sind Gdr und Lyzzy.

Ans Licht kam der Vorgang, weil der wenig erfahrene Polizist nach dem Konsum eine "Überdosis" an Marihuana-Brownies befürchtete und daraufhin die amerikanische Notrufnummer 911 wählte. Der Beamte war offenbar sehr verwirrt über Verschiebungen in der Zeitwahrnehmung und fürchtete, das im Fernsehen laufende Spiel der Red Wings nur zu halluzinieren. Eine Aufnahme dieses etwa fünfminütigen Anrufs kursiert mittlerweile im Web.

Umsatzstärkstes Agrarprodukt

Der Konsum von Marihuana ist in den USA ausgesprochen verbreitet, wird aber trotzdem extrem hart bestraft. In den 1960er Jahren lieferte das Marihuana-Verbot auch Material für die Entwicklung von Verschwörungstheorien und einer grundsätzlichen Staatsskepsis. Der Schriftsteller Ed Sanders nannte es neben der Sexualität den maßgeblichen Grund für das Wachsen der Gegenkultur.1

Die 80er und 90er Jahre verstärkten den Graben zwischen dem Rechtsempfinden breiter Bevölkerungsschichten und der juristischen Bewertung durch die amerikanische Bundesregierung. Der Anteil von Marihuanakonsumenten an der Bevölkerung ist in den USA mittlerweile doppelt so hoch wie in den Niederlanden. Ein Drittel aller US-Amerikaner kam schon mit Marihuana in Berührung. Dabei war es zu Anfang des 21. Jahrhunderts nicht mehr nur die Boheme, in der Marihuana konsumiert wurde: Auch bei Finanzdienstleistern und in Rechtsanwaltskanzleien fand das Produkt regen Absatz.2 Aus der amerikanischen populären Kultur ist Marihuana nicht mehr wegzudenken – seien es Lobgesänge auf "The Cronic" und "Cheeba" im Hip Hop, Simpsons-Episoden oder der durchaus beiläufige Konsum im durchschnittlichen Collegefilm. Auch in YouTube finden sich zahlreiche selbstgemachte Videos in denen stolz Zustände und Gerätschaften präsentiert werden.

In den letzten 25 Jahren verzehnfachte sich die Marihuanaproduktion in den USA – trotz oder gerade wegen – des "War on Drugs". Mittlerweile ist die Pflanze sogar Amerikas umsatzstärkstes Agrarprodukt. DrugScience.org schätzte die Produktion auf jährlich etwa 10.000 Tonnen – was einem Marktwert von 35,8 Milliarden Dollar entspricht. Das ist mehr, als die jährliche Weizenernte wert ist. Kritiker wie Jon Gettman fordern deshalb eine Legalisierung und eine moderate Besteuerung, mit der mögliche Gesundheitsschäden kompensiert werden könnten.

Verbot durch Steuern

Tatsächlich entwickelte sich auch das bestehende Marihuanaverbot in den USA ursprünglich aus einer Besteuerung. Weil die bundesstaatliche Kompetenz für ein solches Interdikt umstritten war, musste die Regierung zu einem Trick greifen, um es durchsetzen zu können: "a scheme of taxation which would raise revenue and which would also render virtually impossible the acquisition of marihuana [...]" wie der Abgeordnete Reed aus New York ausdrückte. Im Marijuana Tax Act von 1937 belegte der US-Kongress das Genussmittel deshalb mit einer Verbrauchssteuer von 100 $ die Unze.3

Das Protokoll der Anhörung war so dünn, dass es in der Library of Congress in ein Regal rutschte und längere Zeit als verschollen galt 4 – was wiederum Platz für Verschwörungstheorien schuf. In der Anhörung hatte sich die amerikanische Ärzteverband American Medical Association (AMA) gegen das Gesetz ausgesprochen.5 Trotzdem wurde die Beschlussvorlage an den Kongress weitergeleitet und dort in der Ära vor Einführung der Klimaanlage im Hochsommer recht eilig verabschiedet. Die negative Stellungnahme der AMA wurde in der recht kurzen Debatte einfach unterschlagen.6 Weil Angeklagte sich in Strafprozessen auf relativ simple Weise eines Teils ihrer Verantwortung entledigen konnten, indem sie sich auf eine angebliche Beeinträchtigung des freien Willens durch die verbotene Substanz beriefen, war die Saat für eine stetige Verschärfung der Gesetze gelegt: Viele Prozesse entwickelten sich unter reger Pressebeteiligung zu öffentlichen Spektakeln, in denen nicht nur die Staatsanwälte und Richter viel allgemeines über die schrecklichen Wirkungen des Marihuanakonsums zu sagen hatten, sondern in dem auch Angeklagte – mitgerissen von der Hysterie oder in Erwartung eines milderen Urteils - auf blumige Weise recht unwahrscheinliche Wirkungen der "Teufelsdroge" schilderten.7