Reisen über die Ränder des Selbst

Anläßlich von Kathryn Bigelows "Strange Days" und John Dahls "Unforgettable"

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Virtuelle Wanderungen in fremde Welten und unbekannte Räume sind noch weitgehend Zukunftsszenarien. Im Kino sind sie zum Leben erwacht. Warum das so ist, und was daraus wurde - dazu hat sich unser Korrespondent Stefan Münker zweier Beispiele einige Gedanken gemacht, nachdem gleich zwei Filme ihn auf die Reise über die Ränder des Selbst mitgenommen haben.

Im Saal ist es dunkel. Licht fällt nur von der Leinwand auf die Gesichter des Publikums. Das sieht weder Licht noch Leinwand: es ist verschwunden, aufgelöst in die immaterielle Bilderwelt des Films. Wir sind im Kino, und deswegen sind wir nicht mehr wir selbst, sondern Teil einer größeren, wenn auch bloß temporären Gemeinschaft. Darin liegt der Reiz des Kinos. Es ist der Ort der Verführung, den die industrielle Moderne ihren Protagonisten erfunden hat, auf daß diese sich ab und an aus der alltäglichen Lebenswelt heraus- und in Sphären reiner Emotion hineinbewegen können. Dieses Kino, der Antipode zum modernen Theater à la Brecht, hat einen Meister: Sein Name ist Hollywood. Seinen Studios verdanken wir die wunderbare Erfahrung, daß hunderte von Zuschauern zum gleichen Zeitpunkt ihre Taschentücher zücken, sich unverhohlen oder verschämt aufkommende Tränen abzutupfen. (Und nirgends hat man soviele spontane Schnupfenanfälle vernommen, wie bei Vorführungen von Vom Winde verweht bis zu Die Brücken am Fluß.)

Das Kino allerdings hat Konkurrenz bekommen. Neue Technologien im Bereich der virtuellen Realität des Cyberspace ebenso wie zukünftige Entwicklungen im Bereich neurobiologischer Forschung schicken sich an, die perfektionierte Nachfolge als Massenverführer qua Wirklichkeitssimulation anzutreten. Natürlich geht dies am Kino nicht vorbei - und so hat es sich im Jahr seines hundertjährigen Bestehens gleich mehrfach der thematischen Auseinandersetzung mit seinen Konkurrenten angenommen. Zwei der ambitioniertesten Beispiele dazu laufen derzeit in den Lichtspielhäusern - Strange Days in der Regie von Kathryn Bigelow, und Unforgettable von John Dahl.

Beide Filme erzählen auf höchst unterschiedliche Weise das imgrunde gleiche Märchen über phantastische, faszinierende, oft aber auch erschreckende Reisen in fremdes Bewußtsein. In Strange Days, gedreht nach einer Drehbuchvorlage von James Cameron ist es eine zur Perfektionierung ausgereifte VR-Technologie, die den Protagonisten (in den Hauptrollen: Ralph Finnes, Angela Bassett und Juliette Lewis) den Zutritt in die Köpfe ihrer Mitmenschen eröffnet: Der SQUID (Supercomputing QUantum Interference Device) nimmt, einmal auf den Schädel gesetzt und eingeschaltet, alle Gefühle und Gedanken seines Trägers auf - und gibt sie fortan, realgetreu wie eigene Erlebnisse, jedem wieder, der die kleine silberne CD abspielt. Der Gedanke ist aufregend - ein wenig weiter noch, und wir koppeln unseren Hirnstamm unmittelbar entweder an die Kortex eines anderen Menschen oder an die Matrix des Cyberspace an, und lösen uns jeweils gänzlich auf in mehr oder weniger virtuelle, jedenfalls aber: fremde Welten.

In Bigelows Film muß die technische Vision mit einem konventionellen Plot konkurrieren. Das kann auf Dauer nicht gut gehen - und so mündet der Film nach einem voluminösen Anfang (in dem die Regisseurin von Blue Steel einmal mehr zeigt, daß sie die Regeln ihres Genre perfekt beherrscht) auch in ein nur allzu absehbares Ende. Das ist schade - umso mehr, als der Versuch, zumindest die psychologische Dimension einer derart perfekten Virtual Reality mit filmischen Mitteln auszudeuten, an einigen Stellen durchaus erfolgreich ist. Der stärkste Moment in Strange Days ist der, in dem der unbekannte Täter sein Opfer zwingt, über eine parallele Echtzeitübertragung den eigenen Tod durch die Augen und mit den Gefühlen seines Mörders mitzuerleben. Hier, wo der extreme Voyeurismus des Films auf ebenso grauenhafte wie konsequente Weise zu Ende gedacht wird, raubt der Schreck vor den faszinierenden Möglichkeiten seiner Technik des Eindringens in intimste Sphären dem Zuschauer den Atem.

Geradezu umgekehrt die Perspektive in Dahls Unforgettable: Statt den eigenen Tod von außen zu erleben, nimmt sein Protagonist den Tod anderer von innen wahr. Das ist nicht weniger brutal, auch wenn es nicht so pervers ist. Es ist aber weit schwerer zu filmen - und hier versagt der Film von Dahl, und verspielt damit einen ebenso interessanten wie spannenden Plot.

Der Pathologe David Krane (Ray Liotta) wurde von der Anklage, seine eigene Frau ermordert zu haben, lediglich aufgrund eines Verfahrensfehlers freigesprochen; der Verdacht blieb gleichwohl an ihm hängen. Eines Tages trifft er die Neurobiologin Martha Briggs (Linda Fiorentino), die in ihrem Labor an Ratten die Möglichkeit eines Erinnerungstransfers beweisen konnte. Briggs hatte ausgehend von der Entdeckung, daß Rückenmarksflüssigkeit als Erinnerungsspeicher fungiert, ein Mittel entwickelt, diese gespeicherte Information zu aktualisieren. Anders als durch das Abspielen digital-codierter Erlebnisse in Strange Days, ist die Injektion des Erinnerungsserums konzipiert als dauerhafte Übertragung der Erfahrungen und Kompetenzen ihres Spenders - sei er tot oder lebendig.

In letzter Konsequenz hätten wir, so die Erfinderin im Film, kaum etwas dagegen, alle an Einsteins Geistesgröße zu partizipieren. Der Gedanke ist reizvoll - und zugleich ein ironisch-subtiler Angriff auf die alte metaphysische Trennung von Geist und Seele, die nur allzu oft in Diskussionen um zukünftige Technologien wieder auftaucht. Das große Problem von Unforgettable aber ist ein Regiefehler Dahls: die Bilder, die wir jedesmal dann sehen, wenn Krane sich wieder einmal eine Dosis injiziert, zeigen uns zugleich denjenigen, der sie ursprünglich gespeichert hat - aber: aus einer externen Perspektive, und sich so zu sehen, ist eben leider noch keinem gelungen. Dieser fatale Fehler mag seinen Grund darin haben, daß Dahl seinem Publikum keine allzu große Abstraktionsleistung zutrauen will. Es ist dieses Zögern, durch das Unforgettable an Plausibilität verliert - weniger seine science fiction, denn die erscheint angesichts der Schnelligkeit der Entwicklungen medizinischer Technologien und der Neurobiologie keineswegs gänzlich unrealistisch.

Am Ende allerdings ist diese offene Frage nach der technischen Realisierbarkeit der digitalen oder biologischen Immersion in fremde Köpfe und Körper auch kaum ein sinnvolles Kriterium der Kritik. Filme dürfen nicht nur lügen - wir erwarten von ihnen nichts anderes. Und daß die Reise in Gefühlswelten und Erlebnissphären, die nicht unsere eigenen sind, längst möglich ist, beweist das Kino schließlich immer wieder. Aus dieser Perspektive erscheinen Filme wie Strange Days oder Unforgettable dann weniger als thematische Auseinandersetzungen mit zukünftigen Konkurrenten auf dem Markt der Illusionen und Simulationen, sondern eher als selbstkritische Reflexionen des eigenen Mediums. Die aber, und das zeigen beide Filme exemplarisch, werden nicht besser, wenn sie den eigenen Mitteln nicht länger vertrauen.

Wer sich damit nicht zufrieden geben mag, für den haben die Produktionsfirmen beider Filme die Möglichkeit geschaffen, die Reise - wenn schon nicht in fremdes Bewußtsein, so doch in die Weiten der virtuellen Welt zu verlängern. Und während Twentieth Century Fox seine WebSite zu Strange Days konventionell als digitalen Trailer gestaltet hat - dafür allerdings zusätzlich erlaubt, Teile der zum Film erschienen interaktiven CD-Rom herunterzuladen - so ist MGM der Versuch schon eher gelungen, die Spannung des Plots in den Cyberspace zu übersetzen, und den Besuch von Unforgettable zu einer lohnenswerten Erweiterung in ein tatsächlich neues Medium mit anderen Regeln zu gestalten.