Religiöses Erleben reduziert Schmerzwahrnehmung

Hirnforscher aus Oxford bringen den Effekt religiöser Erlebnisse mit Mechanismen der Emotionsregulation in Zusammenhang

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In der Geschichte vieler Religionen gibt es Zeugnisse von Menschen, die als Gläubige schier unmenschliche Prüfungen und Qualen meistern. Ob diese Beispiele als göttliche Hilfe oder Beleg für die im Alltag verborgene Kraft der Psyche gedeutet werden, sei dem Einzelnen überlassen. In der Redewendung, der Glaube könne Berge versetzen, scheint aber zumindest ein Fünkchen Wahrheit zu stecken. Hirnforscher aus Oxford haben jetzt in Zusammenarbeit mit Theologen und Philosophen den Einfluss religiösen Erlebens auf die Schmerzwahrnehmung untersucht und dabei herausgefunden, dass die Kontemplation eines Gemäldes der Jungfrau Maria die erlebte Stärke von Schmerzen bei katholischen Versuchspersonen reduziert.

Viele Menschen leiden unter chronischen Schmerzen. Der groß angelegten Europäischen Schmerzstudie von 2003 zufolge ist allein in Deutschland etwa jeder dritte Erwachsene betroffen. Da sich Schmerzen manchmal nur schwierig mit Medikamenten behandeln lassen, Arbeiten auch Psychologen an Schmerztherapien. Ein Versuch zielt auf die Möglichkeit, durch eine Steuerung der eigenen Aufmerksamkeit eine Erleichterung hervorzurufen.

Erste Versuche mit Verfahren der bildgebenden Hirnforschung haben die Möglichkeit untersucht, durch eine gezielte Beeinflussung der eigenen Hirnaktivierung das Schmerzerleben zu reduzieren. Bei der „Neurofeedback“ genannten Methode erhalten die Versuchspersonen eine Rückmeldung über die Aktivierung eines bestimmten Hirnbereichs, der mit der Verarbeitung von Schmerzen in Zusammenhang gebracht wird, zum Beispiel dem anterioren zingulären Kortex. Neurowissenschaftler wie Christopher deCharms konnten nachweisen, dass entsprechendes Training zur Kontrolle der Hirnaktivität tatsächlich das Schmerzerleben lindern kann. deCharms arbeitet inzwischen in der von ihm gegründeten Firma Omneuron an einer kommerziellen Umsetzung dieser Forschung.

Katja Wiech, klinische Hirnforscherin an der Universität Oxford, hat jetzt zusammen mit Kollegen die Frage untersucht, inwiefern religiöses Erleben die Schmerzwahrnehmung beeinflussen kann. Dabei kooperierte sie auch mit Philosophen und Theologen, deren Fakultäten in Oxford eine lange Tradition haben. Für ihre Studie, die gerade im Fachmagazin Pain erschienen ist (Wiech, Farias, Kahane, Shackel, Tiede & Tracey: An fMRI study measuring analgesia enhanced by religion as a belief system. Pain 139: 467-476), wurden zwölf gläubige Katholiken sowie zwölf Atheisten oder Agnostiker untersucht. Bei den Gläubigen wurde darauf geachtet, dass sie regelmäßig am Gottesdienst teilnehmen, täglich beten und weitere religiöse Praktiken ausüben, wie etwa die Teilnahme an Retreats oder Beichten. Die Mitglieder der Kontrollgruppe durften weder religiös sein, noch anders geartete spirituelle Interessen besitzen, was mit einem Fragebogen überprüft wurde.

Schmerzem im Hirnscanner

Bei der Untersuchung, die mit einem funktionellen Magnetresonanztomographen durchgeführt wurde, bekamen die Versuchspersonen in mehreren Durchläufen eines von zwei Bildern gezeigt. In der religiösen Bedingung handelte es sich um die Jungfrau Maria in der Darstellung „Vergine Annunciata“ des italienischen Malers Sassoferrato (*1609, †1685), in der Kontrollbedingung um einen Ausschnitt aus Leonardo Da Vincis (*1452, †1519) „Dama con l'ermellino“ [http://it.wikipedia.org/wiki/Dama_con_l%27ermellino]. Mit einer Befragung hatten die Forscher zuvor sicher gestellt, dass dieser Bildausschnitt der religiösen Darstellung möglichst ähnlich sieht, ohne jedoch selbst eine Religiöse Konnotation zu besitzen.

Ein Durchlauf des Experiments schematisch dargestellt: In der religiösen Bedingung wurde den Versuchspersonen für 30 Sekunden das Bild der Jungfrau Maria gezeigt. Dann bekamen sie für zwölf Sekunden die Schmerzen zugefügt. Nach einer Bewertungsprozedur und einer Pause begann der nächste Durchlauf mit einer der beiden Bedingungen, religiös oder nicht-religiös.

Nachdem die Versuchspersonen in einem Durchlauf das jeweilige Bild für 30 Sekunden gesehen hatten, wurde ihnen für die Dauer von zwölf Sekunden ein Schmerzreiz zugefügt. Dafür bekamen sie an der linken Hand elektrische Ströme angelegt, die vor Beginn des Experiments für jede Versuchsperson individuell eingestellt worden waren. Der Strom war nämlich so lange erhöht worden, bis sie auf einer Skala von 0 bis 100 dem Schmerzerlebnis eine Stärke von 80 attestiert hatten. Nach den schmerzhaften Sekunden während dem Experiment mussten die Teilnehmer jedes Mal bewerten, wie stark sie den Strom empfunden hatten und nach einer kurzen Pause begann der nächste Durchlauf.

Die Auswertung der Verhaltensdaten zeigt, dass sich beide Gruppen zwar nicht allgemein in ihrem Schmerzerleben unterscheiden, dass aber bei den religiösen Versuchspersonen der Schmerz durch die Betrachtung der Jungfrau Maria signifikant kleiner war. In Zahlen ausgedrückt bewerteten sie den elektrischen Strom bei dem Kontrollbild durchschnittlich mit der Stufe 74, bei der religiösen Darstellung aber nur mit 66. Bei den Atheisten und Agnostikern gab es keinen signifikanten Unterschied.

Die Katholiken hatten während der Schmerzphase eine stärkere Aktivierung im rechten ventrolateralen präfrontalen Kortex, wenn sie dabei das Bild der Jungfrau Maria kontemplierten. Diese Region wird mit Emotionsregulation und der Verringerung von Schmerzwahrnehmung in Zusammenhang gebracht.

Die Auswertung der gemessenen Hirnaktivierung ergab zunächst stärkere Aktivierungen in Bereichen, die schon in früheren Studien mit Schmerzen in Zusammenhang gebracht wurden, wie der beidseitigen Insula. Bei einem Vergleich der beiden Gruppen stellte sich heraus, dass die religiösen Versuchspersonen speziell beim Betrachten der Jungfrau Maria eine stärkere Aktivierung im rechten ventrolateralen präfrontalen (in etwa: unten, an der Seite und ziemlich weit vorne) Kortex hatten. Die Forscher erklären diesen Fund mit Blick auf Studien, die Experimente zur Emotionsregulation durchgeführt hatten. Bewährte Strategien, um sich von seinen Emotionen zu lösen, bestehen dabei in einer Ablenkung oder einer „Reappraisal“ genannten Umdeutung der Situation.

Ablenkung oder Umdeutung des Schmerzes?

Wer zum Beispiel an Prüfungsangst leidet, der könnte einfach versuchen, vor der Prüfung an etwas anderes zu denken oder seine Konzentration auf etwas zu lenken, das nichts mit der Prüfung zu tun hat. Das Umdeuten funktioniert im Gegensatz dazu, indem man die Situation in einem ganz anderen Licht sieht und sie so versteht, dass man keine Angst mehr vor ihr haben muss. Anstatt an eine Situation zu denken, in der man sich womöglich an nichts erinnert und kläglich scheitert, könnte man die Prüfung als einen weiteren Schritt in Richtung eines höheren Ziels, beispielsweise dem angestrebten Abschluss, verstehen. In religiösen Kontexten bieten sich solche Umdeutungen etwa an, indem man die Situation als eine höhere Prüfung oder Lebensaufgabe versteht und dadurch, kehren wir zum Schmerz zurück, eine größere Toleranz entwickelt und den unangenehmen Reiz als weniger stark empfindet.

Katja Wiech und ihre Kollegen bevorzugen in ihrer Erklärung die Alternative der Umdeutung, denn die religiösen Versuchspersonen haben nach dem Experiment in Interviews angegeben, sich beim Betrachten der Jungfrau Maria ruhig und sicher gefühlt zu haben oder so, als würde sich jemand um sie kümmern. Damit könnte aus der unangenehmen Situation im Hirnscanner für die Katholiken ein Erlebnis geworden sein, in dem der Schmerz weniger bedrohlich erscheint. Da der rechte ventrolaterale präfrontale Kortex auch in anderen Studien gefunden wurde, in denen Versuchspersonen ihre Schmerzwahrnehmung reduzieren konnten, lässt sich aber nicht definitiv klären, welche der kognitiven Strategien von den religiösen Teilnehmern angewendet wurde.

Kritisch kann man an dem Ergebnis hinterfragen, inwiefern die Versuchspersonen den Hintergedanken der Studie erraten und damit die Bewertung beeinflussen konnten. Wenn man gezielt nach seinen religiösen Vorlieben ausgewählt wird und anschließend beim Betrachten eines religiösen und eines nicht-religiösen Bilds Schmerzen aushalten muss, mag das Forschungsziel auf der Hand liegen. Damit könnte man skeptisch anmerken, dass die Katholiken womöglich gar nicht weniger starke Schmerzen erlebt haben, sondern lediglich die Jungfrau Maria gegenüber der säkularen Darstellung besser abschneiden lassen wollten. Dem widerspricht aber, dass die Atheisten und Agnostiker bei Da Vincis Bild keinen Effekt zeigten, obwohl sie in Bewertungen dieses Gemälde signifikant als angenehmer einstuften. Unabhängig davon ist die Veränderung der Schmerzintensität von gefühlten zehn Prozent nicht gleich ein ganzer Berg, den der Glaube versetzt. Der Aufbau des Experiments lässt sich zum Vergleich nur schwer in den Alltag übertragen. Das Ziel, die Möglichkeit einer Beeinflussung des Schmerzerlebens durch religiöse Kontemplation nachzuweisen und dabei die Hirnaktivierung zu untersuchen, haben die Forschern aber erreicht.

Die letztliche Interpretation des gemessenen Effekts, den die Darstellung der Jungfrau Maria auf die Katholiken hatte, bleibt damit offen. Gläubige Menschen mögen darin einen Hinweis auf das Wirken einer höheren Macht sehen, Atheisten die Anwendung einer Strategie zur Emotionsregulation im religiösen Gewand. Es wäre auch zu viel verlangt, von der Hirnforschung eine Entscheidung zwischen diesen Alternativen zu erwarten. Wie das Experiment aber zeigt, können Zustände religiöser Kontemplation Auswirkungen haben, die für viele Situationen des Lebens relevant sind. Auf der Ebene des Gehirns lassen sich durch weitere Untersuchungen mehr Hinweise darauf finden, welche kognitiven Prozesse dafür eine Rolle spielen. Letztlich könnte das auch für Menschen ohne religiösen Glauben dafür eine Hilfe sein, besser mit Schmerzen oder anderen unangenehmen psychischen Zuständen umzugehen.

In seinem, in der Telepolis-Reihe erschienenem Buch Link auf /tp/r4/buch/buch_31.html erklärt Stephan Schleim die Grundlagen der funktionellen Magnetresonanztomographie und die Tragweite der neuesten Experimente. Dabei spielen gesellschaftliche, rechtliche und ethische Fragen eine große Rolle.