Retortenbabys und eine Pille für den Mann

Möglichkeiten und Grenzen der modernen Reproduktionsmedizin

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Die Weltbevölkerung hat die Sechs-Milliarden-Grenze längst überschritten, und die Tendenz zeigt weiter nach oben. Mit einer optimaleren Verteilung der Lebensqualität, die sicher möglich und nötig wäre, ist dieses Problem auf absehbare Zeit allein nicht zu lösen. Auf der anderen Seite leiden viele Paare der so genannten zivilisierten Welt unter ihrem unerfüllten Kinderwunsch. Von der im Vergleich zu anderen medizinischen Disziplinen noch relativ jungen Reproduktionsmedizin erwarten viele Menschen verträgliche Lösungen für beide Problemkreise. Am Institut für Reproduktionsmedizin der Universität Münster stellt man sich dieser Aufgabe seit nunmehr 25 Jahren.

Münster beherbergt die bundesweit bislang einzige Universität, die über einen eigenen Lehrstuhl für das Fachgebiet Reproduktionsmedizin verfügt. Unter der Leitung von Professor Eberhard Nieschlag erforschen etwa 50 wissenschaftliche Mitarbeiter, medizinisch-technische Assistenten und Gastprofessoren hier die komplexen Mechanismen der menschlichen Fortpflanzung, die Behandlung ihrer Störungen und neue Möglichkeiten der Empfängnisverhütung.

Die 1976 gegründete Abteilung für Experimentelle Endokrinologie an der Universitäts-Frauenklinik in Münster war die Keimzelle des heutigen Instituts. Vier Jahre später richtete die Max-Planck-Gesellschaft darüber hinaus eine klinische Forschergruppe für Reproduktionsmedizin ein. 1989 schlossen sich beide Abteilungen zum heutigen Institut für Reproduktionsmedizin zusammen, seit 1995 besteht hier eine konfokale Forschergruppe der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die - in enger Zusammenarbeit mit der Universität Hamburg - verschiedene Aspekte der männlichen Fortpflanzungsfunktionen untersucht.

In den 25 Jahren seines Bestehens sorgte das Institut mehr als einmal für Aufsehen und Schlagzeilen. Am Pfingstmontag des Jahres 1984 kam im Universitätsklinikum Münster ein Mädchen auf die Welt, das als erstes "Retortenbaby" Nordrhein-Westfalens in die Geschichte einging. Zu den publikumswirksamsten Forschungsgebieten gehört aber ganz ohne Zweifel die "Pille für den Mann". Als Ausbildungszentrum der Europäischen Akademie für Andrologie und Kollaborationszentrum der WHO richtet sich das Augenmerk des Instituts nämlich nicht nur auf die Behebung von Störungen der männlichen Fortpflanzungsfunktionen, sondern praktischerweise auch gleich auf die Behinderung allzu potenter Organismen. Für die Lösung der eingangs erwähnten zwei Problemkreise ist das sicher von Vorteil und deshalb scheint sich auch die Pharmaindustrie nicht mehr gegen die neuen Methoden der Empfängnisverhütung zu wehren.

Prof. Nieschlag zählt diesen vorläufigen Durchbruch zu den wichtigsten Leistungen seiner auch international anerkannten Arbeit: "Zu unseren großen Erfolgen gehört es, in jahrelanger mühsamer Forschung so viel Vorarbeit geleistet zu haben, dass seit drei Jahren zwei namhafte Pharmafirmen an der klinischen Entwicklung arbeiten und, unter anderem mit uns, Studien zur Effektivität durchführen." Mit der Markteinführung und den dann sicher nicht unbeträchtlichen gesellschaftlichen Folgen rechnen Experten bis zum Jahr 2006.

Die Möglichkeiten der modernen Reproduktionsmedizin scheinen fast unbegrenzt zu sein. Eben deshalb ist der Streit um ihre ethische Rechtfertigung in vollem Gange. Während einer Veranstaltung im Rahmen des Berliner Wissenschaftssommers 2001 konnten sich Ärzte, Historiker und Theologen vor wenigen Tagen nicht wirklich auf einen gemeinsamen Nenner einigen. Der Berliner Bischof Wolfgang Huber wandte sich vor allem gegen die Methoden der Präimplantationsdiagnostik (PID). Dabei wird dem durch eine künstliche Befruchtung entstandenen Embryo nach den ersten Zellteilungen eine Zelle entnommen und diese auf genetische Schäden untersucht. Für eine In-vitro-Fertilisation verwenden die Ärzte dann ausschließlich die gesunden Embryonen.

Bischof Huber, Mitglied des Anfang Mai von der Bundesregierung eingesetzten Nationalen Ethikrates, sieht darin "ein selektierendes Element" und die Pränataldiagnostik insgesamt als Teil der Abtreibungsdiskussion. "Wir haben im Jahr 160.000 Abbrüche, davon 1.500 auf der Basis von Pränataldiagnosen". Er verlangt eine deutliche Ausdehnung des deutschen Embryonenschutzgesetzes, das bis jetzt den Schutz des Lebens erst ab der Verschmelzung des männlichen und weiblichen Zellkerns in einer befruchteten Eizelle vorsieht.

Viele Wissenschaftler sehen das anders. Sie weisen darauf hin, dass in anderen Ländern mit bis zu 14 Tage alten frühen Entwicklungsstadien des menschlichen Embryos Experimente und Tests durchgeführt werden dürfen. Prof. Eberhard Schwinger von der Medizinischen Universität zu Lübeck weist darauf hin, dass durch die PID auch Frühgeburten deutlich reduziert werden könnten. Er fordert, dass in Deutschland endlich die Standards durchgesetzt werden, die in europäischen Nachbarländern längst üblich seien: "Es kann nicht angehen, dass eine Frau in Straßburg eine Chance von 40 Prozent hat, nach einer künstlichen Befruchtung mit einem gesunden Kind nach Hause zu gehen, und im sechs Kilometer entfernten Kehl diese Chance nur bei 20 Prozent liegt."

Schwingers Lübecker Kollege, Prof. Klaus Diedrich, ergänzt diese Überlegungen im Detail. In Deutschland dürfe man - je nach Alter der Frau - nur zwei bis drei Zellen übertragen. Ganz anders in Frankreich: "Dort werden zehn Zellen befruchtet, und am 2. oder 3. Tag kann man sich die morphologisch am besten aussehenden frühen Embryonen für den Transfer aussuchen - man verbessert also die Einpflanzungsrate deutlich, indem man die zwei besten nimmt."

Der Aachener Reproduktionsmediziner Prof. Henning Beier plädiert insgesamt für eine neue Definition des Begriffs Embryo, der hierzulande bisher als "lausiger Labor-Slang" gehandelt werde, aber keineswegs eine "naturwissenschaftliche Gegebenheit" sei.

Bischof Huber bleibt angesichts dieses Forscherdrangs letztlich wohl nur die Hoffnung auf die Zusicherung der Bundesregierung, dass kein neues Gesetz erlassen werden soll, ohne vorher die Stimme des Ethikrates einzuholen. Aber die Weiterentwicklung der Reproduktionsmedizin soll auch grundsätzlich nicht an der mangelnden Gesprächsbereitschaft der Kirchen scheitern: "Hilfen für Paare, die sich eigene Kinder wünschen, aber ungewollt kinderlos bleiben, sind zu begrüßen und zu unterstützen."