Rettet die Mir!

Für die Russen sind Planung und Bau der Internationalen Raumstation mit vielen Demütigungen verbunden

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Die Unterschiede zwischen amerikanischer und russischer Raumfahrt sind einmal mit denen zwischen Sprintern und Marathonläufern verglichen worden. Ein schönes Bild: Es unterstreicht gleichermaßen die Gleichwertigkeit wie auch die Unterschiedlichkeit der beiden Partner. Sprinter sind nicht “besser” als Langstreckenläufer oder umgekehrt. Zwischen beiden können sich jedoch beachtliche Interessengegensätze und Verständigungsschwierigkeiten ergeben.

Das erste Modul der ISS

Von letzteren kann Norman Thagard ein Lied singen. Als der Nasa-Astronaut von einem längeren Aufenthalt auf der russischen Raumstation Mir im Sommer 1995 zurückkehrte, war er ziemlich mies drauf. Während der ganzen Zeit in der Umlaufbahn hatte er nie mit seinen russischen Kameraden scherzen oder zwanglos über Alltäglichkeiten plaudern können. Zwar hatte Thagard vor dem Flug Russisch gelernt, doch sprach er es mit einem so starken Akzent, daß seine Kosmonautenkameraden Mühe hatten, ihn zu verstehen.

Bei der Konferenz “Raumfahrt ‘98 - zum Nutzen der Menschheit”, die jetzt im “Haus der Wissenschaft und Kultur der Russischen Föderation” in Berlin stattfand, gingen bei der russisch-deutschen Simultanübersetzung ebenfalls viele Details verloren. Gleichwohl wurde deutlich, daß die Verständigung nicht nur an mangelnden Sprachkenntnissen krankt. Die Differenzen gehen tiefer.

Ein besonders heikler Punkt ist das Geld. Auf die Frage nach Garantien für eine einigermaßen reibungslose und termingerechte Fertigstellung der russischen Teile der Internationalen Raumstation antwortete der Kosmonaut Alexander Serebrow bei einer Pressekonferenz mit wüsten, undeutlichen Anschuldigungen an den Westen: “Wenn Sie nicht Milliarden von Kriminellen nehmen würden, würde uns dieses Geld nicht im Land fehlen und der Bau könnte ohne Probleme vorangehen.”

Finanzierungsfragen, so scheint es, sind den Russen weitgehend fremd. Und so fällt es ihnen ausgesprochen schwer zu akzeptieren, was den Menschen im Westen mittlerweile fast selbstverständlich erscheint: daß diejenigen, die das Geld haben, auch das Sagen haben sollen - im Falle der Internationalen Raumstation die Amerikaner.

Anatoli Solowjew, ursprünglich als Mitglied für die erste dreiköpfige Crew der Internationalen Raumstation vorgesehen, trat von dieser Aufgabe zurück, als entschieden wurde, daß ein Amerikaner der Kommandant werden soll. Dabei kann Solowjew mit einiger Berechtigung Anspruch auf den Titel des erfahrensten Raumfahrers der Welt erheben: Auf fünf Raumflügen hielt er sich insgesamt über eineinhalb Jahre im All auf und verbrachte dabei so viel Zeit mit Außenbordarbeiten wie kein anderer. Im letzten Jahr leitete der ruhige, besonnene Kosmonaut mit Erfolg die Reparaturarbeiten auf der stark angeschlagenen Mir. Wenn es allein nach Kompetenz ginge, hätte der Posten des Kommandanten ihm und keinem anderen zugestanden. Aber es geht eben auch um Geld.

Rechtliche Fragen der Nutzung der Internationalen Raumstation, klagt der Kosmonaut und promovierte Jurist Juri Baturin, seien noch weitgehend ungeklärt. Er warnt davor, sie den Politikern zu überlassen, da die nur wenig Verständnis für die Probleme von Kosmonauten hätten. Es könne auch nicht davon ausgegangen werden, daß diese Dinge automatisch wie auf der Mir geregelt würden.

Mir

An Bord der Mir, die nie für militärische Zwecke genutzt worden sein soll, herrscht für alle Bewohner völlige Bewegungsfreiheit. Der Nasa-Astronaut Terry Wilkat bestätigt das. Er wurde bei seinem Besuch vom Kommandanten mit den Worten begrüßt: “Mein Zuhause ist dein Zuhause.” Die Amerikaner konnten ungehindert alles fotografieren.

Für die Internationale Raumstation war dagegen ursprünglich die Einrichtung nationaler Module vorgesehen. Dieser Plan wurde jedoch bald wieder fallengelassen, da jedes Modul für den Betrieb der gesamten Station notwendig ist. Dennoch ergeben sich aus der größeren Besatzung (sechs bis sieben statt zwei bis drei Personen) und ihrer multikulturellen Zusammensetzung neuartige Konfliktpotentiale, die entsprechende rechtliche Regelungen erfordern. Vor allem aber werden Raumfahrer, die in den Weltraumlaboratorien arbeiten wollen, zuvor ihre Fähigkeit zu Toleranz und Selbstkritik unter Beweis stellen müssen.

Für mehr Toleranz wirbt auch Baturin. Viele bedeutende wissenschaftliche Entdeckungen, erklärt er, seien zweimal, auf jeweils unterschiedliche Weise, gemacht worden: mit den analytisch-rationalen Methoden eines Galilei oder Leibniz und mit der bildhaft-intuitiven Art eines Kepler oder Newton. “Die Geschichte der Wissenschaft”, sagt er, “kennt sowohl Romantiker, die mehr mit der rechten Gehirnhälfte denken, als auch Analytiker, die die linke Hälfte bevorzugen. Auch der Weg in den Kosmos wird mit beiden Gehirnhälften geebnet.”

Bei der Internationalen Raumstation gäben jedoch vor allem die analytischen Amerikaner den Ton an. Die russischen Romantiker dagegen hätten nur minimalen Einfluß auf die Gestaltung. Um so wichtiger sei es, die Mir zu retten.

Nach den derzeitigen Plänen soll die russische Raumstation im kommenden Jahr, wenn die permanente Besetzung der Internationalen Raumstation beginnt, im Ozean versenkt werden. Für die russischen Raumfahrer eine weitere Demütigung, die sie mit aller Kraft verhindern wollen. Die Besucher der Berliner Konferenz mußten daher auf den Ehrengast, die Raumfahrt-Legende Valentina Tereschkowa verzichten. Die erste Frau im All wurde in Moskau, bei einer wichtigen Anhörung zur Zukunft der Mir, dringender gebraucht.

So blieb es Baturin überlassen, in Berlin für die Mir zu werben. Nach seiner Einschätzung könnte die Station noch für drei bis fünf Jahre arbeitsfähig bleiben und danach als Übungsgerät für Notfall-Evakuierungen genutzt werden. Es seien bereits Spendenkonten für die Erhaltung der Mir eingerichtet worden, berichtete er - und gab damit ein weiteres, eindrückliches Beispiel für die Verständigungsprobleme zwischen Ost und West: Die Kontonummer verschwieg er.