Rien ne vas plus in Athen

Das internationale Pressezentrum Zappeion blieb diesmal leer - kein Politiker kam. Bild: W. Aswestopoulos

Gesetzlich verordnetes Chaos

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Das einzig sichere Ergebnis der griechischen Wahlen ist ein Bekenntnis zur Europäischen Union und zum Euro als Währung. Abgelehnt wird mehrheitlich der von EU, EZB und IWF verordnete Sparkurs, der vor allem die ärmeren Einkommensschichten über Gebühr belastet hat. Nach 38 Jahren "Metapolitefsi", der Periode nach der Befreiung von der Militärherrschaft, bricht für Griechenland nun die Neopolitefsi an.

Griechenlands Parteien haben das Land in eine absolute Sackgasse manövriert. Vor allem das ursprünglich zur Machtsicherung von PASOK und Nea Dimokratia konstruierte Wahlgesetz, das der stärksten Partei stolze fünfzig Extraparlamentssitze beschert, erwies sich als Bumerang. Beim vorläufigen amtlichen Endergebnis hat die Nea Dimokratia 2,07 Prozent Vorsprung und thront mit 18,85 Prozent vor dem an zweiter Stelle stehenden Linksbündnis SYRIZA, das auf 16,78 Prozent kam.

Verkündung der Wahlergebnisse im Syriza-Zelt. Bild: W. Aswestopoulos

Daher erhält die Nea Dimokratia als stimmstärkste Partei die Bonussitze, die sie selbst dann erhalten hätte, wenn die Prozentzahlen umgekehrt gewesen wären. Denn der Verfassungsrechtler Prokopis Pavlopoulos von der Nea Dimokratia hatte bei seiner Gesetzeskonstruktion Parteibündnisse, und genau das ist das aus zwölf einzelnen Parteien bestehende Bündnis SYRIZA, von der Regelung ausgeschlossen. Der Koalitionsvorsitzende des SYRIZA, Alexis Tsipras, kündigte an, dass er gegen das "den Wählerwillen und die verfassungsmäßig garantierte gleiche Gewichtung aller Stimmen pervertierende" Bonussystem gerichtlich vorgehen werde.

Aber das wird ebenso lange dauern wie eine gesetzliche Novellierung der umstrittenen Regel. Denn ein weiteres Wahlgesetz sieht vor, dass Wahlgesetzänderungen nur bei den jeweils übernächsten Wahlen gültig sein können. Wie im wortwörtlichen Sinn verrückt die Sitzverteilung im Verhältnis zum Wählerwillen ist, zeigt ein Diagramm, das seit gestern Abend im Internet kursiert.

Doch auch ohne dieses Paradoxon blockiert das Wahlgesetz aufgrund weiterer Einschränkungen sämtliche Koalitionsmöglichkeiten. Die Nea Dimokratia kommt mit ihren zwei Stimmen Vorsprung auf 108 Sitze und hat somit 56 Mandate Vorsprung vor SYRIZA. Trotzdem ist eine Fortsetzung der Koalition mit der nur 41 Mandate starken PASOK, die 2009 noch auf 160 Parlamentarier kam, instabil. Sie hätte im dreihundertsitzigen Parlament mit 149 Mandaten zwei weniger als die erforderliche absolute Mehrheit der Sitze.

Die einzige öffentliche Wahlparty fand beim SYRIZA statt. Bild: W. Aswetsopoulos

Destabilisierend im Sinn einer möglichen Regierungsbildung erwies sich auch die Sperrklausel von drei Prozent. Ursprünglich wurde sie in den Neunzigern zur Vermeidung Weimarer Verhältnisse eingeführt. Diesmal jedoch beraubt diese Klausel 19,03 Prozent der gültig abgegebenen Stimmen, somit mehr als die erstplazierte Nea Dimokratia erhielt, ihrer parlamentarischen Repräsentanz. Gleich zwei Parteien, die Grünen Ökologen und das orthodoxe Sammelbündnis LAOS, scheiterten mit 2,9+ Prozent nur wegen wenigen hundert Stimmen. Die Parteien auf Rang 11, 12 und 13 erhalten zusammen 6,5 Prozent. Sowohl die Demokratische Allianz von Dora Bakoyianni, die Dimiourgia Ksana! (Schaffung jetzt!) von Thanos Tzimeros und die Drasi von Stefanos Manos haben nahezu deckungsgleiche Programme. Es handelt sich um liberale Parteien, die allesamt als Koalitionspartner für ein Wahlbündnis der Sparkursbefürworter hätten dienen können.

Ausgeschlossen ist durch die Wahlgesetzregelung auch eine Konsensregierung der Parteien links der Mitte. Zusammen mit den Kommunisten, die 8,48 Prozent erhielten, käme solch eine Koalition mit 45,4 Prozent der gültigen Wahlstimmen nur auf 138 Parlamentssitze. Dagegen kommen die ursprünglich eine Partei bildenden Unabhängigen Griechen und Nea Dimokratia bei 29,45 Prozent auf gemeinsam 141 Sitze. Panos Kammenos, der Parteichef der Unabhängigen Griechen und bis Januar Parteigenosse Samaras, meinte zu einer möglichen Koalition bereits in der Wahlnacht: "Nur über meine Leiche." Die Kommunisten, die 1989 zusammen mit der Kernpartei des SYRIZA, dem Synaspismos, und der Nea Dimokratia eine Koalition der nationalen Einheit bildeten, schlossen diesmal jede Zusammenarbeit mit anderen Parteien aus. Ausgeschlossen erscheint aus verständlichen Gründen eine Koalition einer Partei mit der neonazistischen Chryssi Avgi, die als Hauptsammelbecken für Protestwähler 21 Sitze erringen konnte.

Alexis Tsipras, der Parteichef des SYRIZA, mit Weltkriegsheld Manolis Glezos, der Nummer eins der Landesliste. Bild: W. Aswestopoulos

Egal, wie man es dreht und wendet, selbst die sich mathematisch und politisch als sinnvoll ergebenden Bündnisse scheitern daran, dass sie keinen wirklichen Rückhalt in der Bevölkerung haben. So lassen sich tief greifende Strukturmaßnahmen nicht durchführen. Zu allem Überfluss zeichnete das Wahlergebnis einen tiefen Riss zwischen Stadt- und Landbevölkerung. In den Großstädten, die bisher am meisten unter der Krise zu leiden hatten, wurde das Linksbündnis stärkste Partei. In der Provinz dominiert immer noch das alte Zweiparteiensystem. Denn faktisch erlebt die Provinz erst jetzt wirklich die Krise.

Die Menschen in Griechenland empfanden zudem die ständigen Einmischungen aus Deutschland, der EU und dem IWF als peinlich. Dies, verbunden mit einem Hass auf die als arrogant empfundene Art und Weise, mit der sich PASOK und Nea Dimokratia "zur Landesrettung" über verfassungsmäßig verankerte Rechte hinweg setzten, sorgte für den ideologisch nicht fassbaren Zulauf der Wähler zu den Neonazis. Anders lässt sich nicht erklären, warum ausgerechnet in den von Nazis im dritten Reich zerstörten Dörfern Kalavryta und Distomo fast 6,5 Prozent der Nachfahren der Naziopfer deren Bewunderer wählten.

Die Athener Börse reagierte mit einem dramatischen Kurssturz. Vor allem Bankaktien verloren bis zu einem Viertel ihres Nennwerts. Die dringend erforderliche Auszahlung der ersten Tranche des zweiten Hilfspakets wurde für den laufenden Monat zwar vor der Wahl genehmigt, ob sie tatsächlich ausgezahlt wird, steht jedoch in den Sternen. Aus eigener Kraft kann das Land weder einen neuen Kurs einschlagen, noch die Sparauflagen erfüllen. PASOK-Chef Evangelos Venizelos legte deshalb das Schicksal Griechenlands in die Hand einer höheren Instanz. "Gott stehe diesem Land bei", meinte er. Wenn pragmatische Machtpolitiker den Allmächtigen anrufen, dann ist Panik angesagt.