Rudi Dutschke: die Kraft der Worte

Rudi Dutschke (1940-1979) Bild: Hans Peters / Anefo, CC0 1.0 Universal

Die Redemitschnitte des Westberliner Revolutionärs vermitteln einen Eindruck der historischen Figur, die man in seinen Schriften vergeblich sucht

Ein "hinreißender Rhetor" sei Rudi Dutschke gewesen. So lautet das Urteil des Haus- und Hofphilosophen der alten Bundesrepublik Jürgen Habermas. Doch dieses zweifelhafte Kompliment, von allen liberalen Feuilletons bei jedem sich bietendem Anlass wiederholt und endlos variiert, hat einen Widerhaken.

Auszug aus dem Booklet der CD-Box „Die Stimme der Revolution – Rudi Dutschke in zwölf Originalaufnahmen“, erscheint dieser Tage im Ousia Lesekreis Verlag, 5 Audio CDs, 1 MP3 CD, 2 Booklets mit insgesamt 128 Seiten, 35,90 Euro (UVP), ISBN: 978-3-944570-64-8

Rudolf Augstein, Gründer und langjähriger Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel sprach aus, was eigentlich gemeint ist, wenn Dutschkes außergewöhnliche Rednerkünste von seinen politischen Gegnern gelobt werden. "Ein Geistesheros war er sichtlich nicht", schrieb Augstein 1980 in seinem Nachruf. "Dutschke, wie gesagt, war kein Theoretiker. Er war ein Redner, wie es außer Strauß und Wehner in Deutschland nach 1945 keinen mehr gegeben hat."

Wem das noch immer zu subtil ist, dem hilft Augsteins Nachfolger Stefan Aust auf die Sprünge. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk 2008 sagte Aust über Dutschke: "Als Redner war er außerordentlich eindrucksvoll. Das lag aber gar nicht so sehr an dem, was er sagte, es war der Ton, der die Musik machte. Dieser heisere Sound, da hat er unendliche Schachtelsätze von sich gegeben, mit außerordentlich vielen soziologischen Worten gespickt. Ich vermute mal, manchmal wusste er auch selbst nicht so richtig, was er meinte, aber es war sehr eindrucksvoll auf die Weise, die Art und Weise, wie er gesprochen hat."

Und der Biograph Ulrich Chaussy sekundiert: "Doch, so spricht er. Die unfreiwillige Karikatur des deutschen Schachtel- und Bandwurmsatzes ist seine Redeweise. Mit Redekunst hat das nichts zu tun. Die Abschrift der Interviews und Reden Dutschkes tilgt seine Stimme, macht seine Reden zum Skelett und legt unerbittlich ihre Schwächen bloß. Da er aber seine Zuhörer mit diesen Reden fasziniert, gehören auch ihre Schwächen zur Erklärung des Erfolgs. Oft geht das so: Die Sätze halten Möglichkeiten offen, etwas zu tun, wovon eigentlich jeder schon weiß, dass es nicht möglich ist. Es soll aber möglich sein. Für diese Sehnsucht lassen Dutschkes Sätze Platz."

„Es geht immer um die konkrete Frage von Demokratisierung“ – Zusammenschnitt Rudi Dutschke (Audio)

Sie sagen Dutschke der "brillante Redner" und meinen doch nur Dutschke der "begnadete Demagoge", wie ihn Springers Bild, darin weitaus ehrlicher, noch heute nennt.

Ein Demagoge, der nicht nur die Massen mit dem "heiseren Sound" seiner Rattenfängermelodie betört, verhetzt und aufwiegelt, nein, ein Demagoge, der seiner eigenen Suggestion zum Opfer fällt und sich an der eigenen Rede berauscht. Dieses Bild von Dutschke dem ekstatischen Demagogen mit seinen "stechenden Augen" und der "asketischen Aura", ein gefährlicher und fanatischer roter Rasputin, spukt auch durch die erdichteten Anekdoten und phantasierten Erinnerungen jener Spätangepassten, die heute gerne damals nicht gewusst hätten, was sie taten.

Dieses Bild sagt rein gar nichts über Dutschke aus, dafür aber alles über das "kapitalistische Denken" jener, die "gesellschaftliche Konflikte - von Menschen massenhaft gemacht" nur begreifen können "in Gestalt von Personen", wie Dutschke in einem seiner berüchtigten, angeblich unverständlichen "Schachtel- und Bandwurmsätzen" sagt.

Der Irrtum der Nekrologe

"So wurde die antiautoritäre Bewegung" nicht nur "identisch gesetzt mit Dutschke und personalisiert in einem fast totalen Sinne". Jene, die in ihrer Identifikation mit den herrschenden Verhältnissen immer schon im Vorhinein wissen, was nicht möglich sein soll, können auch nicht anders, als den Anklang, den der "Rädelsführer" Dutschke bei seinen "Zuhörern" fand, zu mystifizieren, denn am Inhalt, dessen, was Dutschke sagte, darf es, um keinen Preis gelegen haben.

Kurz nach Dutschkes Tod schrieb der Essayist Michael Schneider in seinem Nachruf:

Ach, wie schlecht haben diese Herren denjenigen gekannt, dem sie jetzt ihre Nekrologe widmen. Sie alle bescheinigen ihm das, was man gemeinhin 'Charisma' nennt (einer der hilflosesten Begriffe bürgerlicher Soziologie): eine ungewöhnliche Rednergabe, eine fast demagogische Überzeugungskraft. Die Rednergabe gehörte zu seinem politischen Handwerkszeug; aber das Handwerkszeug war nicht, was ihn eigentlich ausmachte, sondern: dass er wirklich meinte, was er dachte und mit seiner ganzen Person dafür einstand. Wenn er 'Charisma' hatte, dann in einem radikal anderen Sinn, als die Vergötzer der Rhetorik und die Fetischisten des Kehlkopfs (Dutschkes 'heiser, suggestiv surrende Stimme') meinen: Er hatte Achtung vor dem Menschen und ein Ohr für den 'geringsten unter seinen Brüdern' und Genossen. Denn auch als radikaler Marxist hat er sein christlich-humanistisches Erbe nie verleugnet.

Wahr ist, dass Dutschke mehr über seine Reden und über Gespräche gewirkt hat, als durch seine Schriften. Dadurch wird er allerdings nicht zu einem, der "sichtlich kein Theoretiker" war, wie Augstein gerne glauben machen möchte. Im Gegenteil zeichnet gerade dies Verhältnis von Rede und Schrift, nach Platon, den "guten Philosophen" aus, der noch mehr und Wesentlicheres mündlich zu vermitteln weiß, als er geschrieben hat.

Diese Kennzeichnung trifft offensichtlich auch auf Dutschke zu, wie sich zeigen lässt. Im Jahr 2000 veröffentlichte der Philosoph und Politikwissenschaftler Frieder Otto Wolf in der Zeitschrift Das Argument stichprobenartig einen Brief aus dem Nachlass, den Rudi Dutschke am 31.3.1967 an den ungarischen Philosophen und Literaturwissenschaftler Georg Lukacs geschrieben hatte.

Wolf legt hier auf 13 Seiten und in 144 Anmerkungen den theoretischen Unterbau des knapp siebenseitigen Briefes offen, wohlwissend, damit dessen wahre Ausmaße noch bei Weitem nicht erschöpft zu haben. Gehaltvoll sind aber nicht nur Dutschkes Briefe, das gleiche gilt für die von ihm überlieferten Reden.

Die einzelnen Sentenzen und Parolen in den Reden, Interviews und Gesprächen des sozialistischen Agitators Dutschke tragen auffallend häufig den Charakter dessen, was der US-amerikanische Linguist Georg Lakoff "konzeptionelle Metaphern" nennt: einfache Wortbilder, die unmerklich komplexe Zusammenhänge, Sicht- und Denkweisen transportieren. Einige Bespiele aus den vorliegenden Hörstücken können das illustrieren.