Rückblicke auf die Welt vor dem Ukrainekrieg

Fachleute klären auf: Ein Rückblick auf das, was man alles vor dem 24. Februar 2022 (nicht) wusste

Als Erstes stirbt im Krieg die Wahrheit, heißt es mit Blick auf die Medien. Und wenn man sich die in Leitmedien veröffentlichte Meinung in Deutschland ansieht, kann man das nur bestätigen. Der hiesige "Qualitätsjournalismus" bekennt sich sogar explizit dazu – in programmatischen Erklärungen –, dass Objektivität nicht sein Ding ist, dass er vielmehr das Publikum als ein nationales Wir ansprechen und bei der Parteinahme für die ukrainische Seite samt deren Nato-Paten mitnehmen will.

Natürlich hauen jetzt auch Sachbücher in diese Kerbe – vom persönlichen Erlebnisbericht aus der Kampfzone bis zum außenpolitischen Schnellschuss, so etwa Norbert Röttgens Manifest "Nie wieder hilflos!". Der CDU-Politiker habe "schneller geschrieben, als die Russen geschossen haben", heißt es (General-Anzeiger, 24.2.22). Kernsätze seines Buchs:

Wir hätten auf den Ukraine-Krieg vorbereitet sein müssen und waren doch völlig überrascht. Nie wieder dürfen wir uns so sehr in die Abhängigkeit eines autoritären Staates wie Russland begeben. Nie wieder dürfen wir so schwach wirken – und es auch sein.

Ein Manifest in Zeiten des Kriegs, München 2022

Aber wie sieht es bei Fachleuten aus, die sich aus politik- oder geschichtswissenschaftlicher Distanz schon seit längerem mit dem Verhältnis von Ost und West beschäftigen? Dazu hier, anhand zweier Neuerscheinungen, einige sachdienliche Hinweise.

Das Buch "Der Aufmarsch – Vorgeschichte zum Krieg" des Journalisten Jörg Kronauer, der als Redakteur des Portals German Foreign Policy tätig ist, erschien im April 2022.

Es wurde redaktionell vor Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine abgeschlossen. Der Verlag veröffentlichte es dennoch unverändert, ergänzt um eine kurze Einleitung mit einer Einordnung des Kriegs, der "nicht unangekündigt, doch für viele unerwartet" kam.

Das ist eine mutige verlegerische Entscheidung. Mittlerweile kennt ja jeder das Resultat der hier ausgebreiteten "Vorgeschichte", und so muss sich der Text einer ganz neuen Prüfung stellen, nämlich im Blick darauf, inwiefern das Dargelegte die Triebkräfte herausarbeitet, die zum jetzt eingetretenen militärischen Ernstfall geführt haben.

Den Test besteht das Buch. Andere Publikationen, die Anfang 2022 erschienen sind und sich mit Russland oder dem Ost-West-Verhältnis befassen, haben damit schon eher Probleme. So z.B. Stefan Creuzbergers große Studie "Das deutsch-russische Jahrhundert", die zeitgleich mit Kriegsbeginn vorgelegt und redaktionell ebenfalls Ende 2021 abgeschlossen wurde.

Sie geht zwar im Schlussteil auf die letzte Phase des westöstlichen Eskalationsprozesses bis zur Gipfel-Diplomatie im Sommer 2021 ein, als auf Druck der USA "die Länder des Westens im Rahmen von Europäischer Union und NATO mit einer Stimme gegenüber Russland aufzutreten"1 begannen.

Aber der Autor, Hochschullehrer und ehemaliger Redakteur der Fachzeitschrift Osteuropa, setzt doch noch große Hoffnungen auf das binationale Verhältnis und auf eine eigenständige Rolle Deutschlands.