Ruhe vor dem Sturm

Nach einer kurzen Phase der Ruhe sind israelische Panzer in den Gazastreifen eingedrungen; ein Ende der Auseinandersetzungen ist nicht in Sicht

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Die Zahl der israelischen Luftangriffe auf Ziele im Gazastreifen (vgl. Eskalation in Gaza) ist in den vergangenen Tagen zurück gegangen, die der Raketenangriffe auf die Städte in der Nachbarschaft der palästinensischen Enklave auch. Dafür drangen am Dienstag Abend Panzer in den Landstrich ein. Mittlerweile reklamieren beide Seiten erste Siege für sich: Die Armee habe der radikalislamischen Hamas einen „harten Schlag“ versetzt, erklärte Israels Regierungschef Ehud Olmert am Montag, und die Hamas konterte, der Rückzug von Soldaten, die übers Wochenende Stellung im Gazastreifen bezogen hatten, sei Zeichen dafür, dass ihre Kämpfer einen wichtigen Sieg gegen Israel errungen haben.

Zurückhaltender geben sich da die Beobachter auf beiden Seiten und verweisen darauf, dass die Militär-Kampagne nicht nur nicht vorbei sei und auch ihr Ziel, die Raketenangriffe auf Israel zu stoppen, bisher nicht erreicht ist, sondern dass dies möglicherweise erst der Anfang ist: Heute will Israels Sicherheitskabinett um Premierminister Ehud Olmert und Verteidigungsminister Ehud Barak über den Beginn einer groß angelegten Boden-Offensive entscheiden, so wie sie von der Rechten gefordert wird.

Das Militär träumt deshalb schon offen, dass man nun das Abenteuer „Hamastan“ beenden, und Außenministerin Zippi Livni erklärte in einem Gespräch mit ausländischen Diplomaten, eine Wiederbesetzung des Gazastreifen sei im Bereich des Möglichen. Denn ob die Fatah-Fraktion von Präsident Mahmud Abbas, die mit der Hamas tief verfeindet ist, die Macht in Gaza übernehmen könnte, ist mehr als fraglich. Abbas weiß dies und bietet nun an, zwischen Israel und der Hamas zu vermitteln.

Erinnerungen an den Sommer 2006

Propaganda heißt auf Hebräisch Hasbarah, was eigentlich einfach nur „Erklärung“ bedeutet. Und wie Vertreter der israelischen Regierung, ganz gleich ob Politiker, Pressesprecher oder Diplomaten im Ausland, die derzeitigen Vorgänge der in- und ausländischen Öffentlichkeit erklären sollen, steht in einem Heftchen, das in den vergangenen Tagen an jeden verschickt wurde, den es etwas angehen könnte: Man solle hervorheben, dass es die Hamas mit ihren Raketenangriffen auf Israel gewesen sei, die angefangen habe, dass die Hamas ihre Kämpfer zwischen Kinder und andere Zivilisten schicke, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen, haben darin die Mitglieder einer nationalen Hasbarah-Kommission aufgeschrieben.

Dieses Komitee wurde gegründet, nachdem während des Libanon-Krieges die israelische PR-Maschinerie Wochen gebraucht hatte, um ins Laufen zu kommen, und das Ansehen des Staat Israel deshalb, so die Winograd-Kommission (vgl. dazu Harte Worte), die die israelische Kriegsführung untersucht hat, in ihrem Schlussbericht, „schwer gelitten“ hat: In Ermangelung von Regierungsvertretern mit passablen Englisch-Kenntnissen hatte damals Tourismus-Minister Jitzhak Herzog Wochen lang den Pressesprecher des Kabinetts gegeben.

Diese Lehre scheint in diesen Tagen die Einzige zu sein, die man aus dem Libanon-Krieg gezogen hat: Vieles, sagen selbst Abgeordnete von Kadima, der Partei von Premierminister Ehud Olmert, erinnere im Moment fatal an die Entscheidungs- und Meinungsbildungsprozesse während jener 34 Tage im Sommer 2006: das Zögern des Regierungschefs, das Drängen der Militärführung, aber auch das Fehlen von klar formulierten Operationszielen - „Ich erlebe zur Zeit einen Déjà Vu,“ sagt ein Abgeordneter der Arbeiterpartei, der größten Koalitionspartnerin Kadimas:

Klar, ich habe hier ein Heftchen, in dem steht, wer angefangen hat, und dass die zivilen Opfer bedauernswert sind, aber leider nun mal im Kreuzfeuer waren, aber was antworte ich, wenn mich jemand fragt, was als Nächstes kommt? Winograd hat das blinde, ungerechtfertigte Vertrauen in die Luftwaffe kritisiert – und trotzdem vertraut man auch jetzt wieder darauf, dass sie die Dinge regeln wird.

Kommt die Offensive?

In der Tat gibt sich Regierungschef Olmert siegesbewusst: Man habe der radikalislamischen Hamas, die im Juni vergangenen Jahres nach dem Scheitern der Einheitsregierung mit der Fatah die Macht im Gazastreifen übernahm, einen „schweren Schlag“ versetzt, erklärte der Premier am Sonntag und gibt sich ansonsten nach wie vor zögerlich, was die Boden-Offensive betrifft, die von seinen rechten Koalitionspartnern und der Militärführung gefordert wird: „Olmert hat Angst davor, dass es genauso laufen wird, wie während und nach dem Libanon-Krieg, und ihn jene, die jetzt die Boden-Offensive fordern, dafür kritisieren werden, nachdem die ersten Soldaten gefallen sind“, kommentierte die Zeitung Jedioth Ahronoth am Montag.

Und so wird sich am heutigen Tag entscheiden, ob die Offensive kommen wird, oder ob nicht, denn heue tagt das sogenannte „Sicherheitskabinett“, ein kleiner Kreis von ausgesuchten Ministern um Olmert und den sozialdemokratischen Verteidigungsminister Ehud Barak, einem der Haupt-Befürworter des Bodeneinsatzes. Wie die Entscheidung ausfallen wird, ist zur Stunde noch völlig unklar.

Denn innerhalb der Regierung besteht keinesfalls Einigkeit darüber, auch wenn sie im Moment bemüht ist, sich nach außen hin so zu geben: Die unbedachte Äußerung von Matan Vilna'i, einem der fünf Vize-Regierungschefs, was ein rein zeremonieller Titel ist, der aus politischen Erwägungen vergeben wird, die Palästinenser im Gazastreifen erwarte eine größere Scho'ah, soll die letzte gewesen sein; Vilna'i habe der Regierung Schaden zugefügt, als er nicht bedachte, dass Israelis zwar das Wort Scho'ah, Katastrophe, für alles Mögliche benutzen, es aber bei ausländischen Journalisten, die der hebräischen Sprache gar nicht oder nur bruchstückhaft mächtig sind, unweigerlich eine Konnotation mit dem Holocaust hervor rufen würde, heißt es. Und dennoch: Einigkeit besteht, wie gesagt, nicht.

Was die Militärs gerne hätten..

Während die Hardliner am rechten Rand der Regierung, also vor allem aus den Reihen der rechtspopulistischen Jisrael Beitenu, aber auch im Umfeld von Verteidigungsminister Ehud Barak, ein ehemaliger Generalstabschef und Premierminister, einen Einmarsch in den Gazastreifen befürworten, wird er von anderen abgelehnt, weil unklar ist, was dann passieren würde: Werden die Soldaten nur eine Sicherheitszone entlang der Grenze besetzen? Werden sie nach Waffen und Waffenschmieden suchen? Soll möglicherweise das Experiment „Hamastan“, wie der Gazastreifen unter Hamas-Führung gerne in den Medien genannt wird, beendet werden?

Das jedenfalls hätte das Militär gerne: Jetzt sei die Zeit, gegen die Hamas vor zu gehen, sagten namentlich nicht genannt Mitglieder des Generalstabs israelischen Medien, ohne allerdings die Frage zu beantworten, wie dies vonstatten gehen, und was danach kommen soll.

...und Olmert

Premierminister Olmerts favorisierte Option ist, dass die Palästinensische Autonomiebehörde, deren Macht sich zur Zeit allein auf Teile des Westjordanlands erstreckt, und die von der mit der Hamas verfeindeten Fatah-Fraktion von Präsident Mahmud Abbas dominiert wird, wieder die Kontrolle über die dicht bevölkerte Enklave zwischen Israel, Ägypten und dem Mittelmeer übernimmt. Doch Beobachter auf beiden Seiten zweifeln daran, dass dies umsetzbar sein würde.

Wenn die Fatah versucht, die Macht zu übernehmen, und die Hamas dabei außen vorlässt, werden die Kämpfe zwischen den beiden Gruppen von vorne los gehen.

Mitarbeiter des Fatah-nahen palästinensischen Fernsehens PBC im Gazastreifen

Hamas und Fatah hatten sich bis zur Machtübernahme durch die Radikalislamisten Monate lange Kämpfe (vgl. Konflikt der Kulturen) mit vielen Opfern geliefert. Auch viele israelische Medien glauben nicht daran, dass eine Fatah-Regierung im Gazastreifen ohne militärische Stützung von außen funktionieren würde: „Man kann die Regierung der Hamas festsetzen und sie durch eine der Fatah ersetzen, aber von den Palästinensern wird sie immer als Marionetten-Regierung gesehen werden“, kommentiert die Zeitung Ma'ariv:

Die Massen werden umso mehr hinter der Hamas stehen.

Und die hebräische Ausgabe von HaAretz spekuliert bereits, dass der Gazastreifen wohl in Zukunft von Ägypten kontrolliert werden könnte, was allerdings momentan noch eine abwegige Option ist, obwohl man in Kairo Angst hat, dass die Lage in Gaza auch Einfluss auf die eigene innenpolitische Lage haben könnte, denn in Ägypten wird die mit der Hamas ideologisch verbandelte Moslembruderschaft zunehmend stärker. Nur: Auf eine Besatzerrolle in Gaza will man sich dann doch nicht einlassen. „Eine militärische Rolle im Gazastreifen ist für uns kein Thema,“ erklärt ein Sprecher der ägyptischen Botschaft in Tel Aviv kurz angebunden.

Wiederbesetzung?

Bliebe also eine Wiederbesetzung Gazas durch das israelische Militär. Zwar würde eine dauernde Präsenz Tausende von Soldaten binden, und die Verteidigungsfähigkeit der Außengrenzen des Staates Israel schwächen, zumal diese ohnehin schon durch die Truppenstärke im Westjordanland gesenkt wird, aber das heißt vor dem Hintergrund der komplizierten politischen Entscheidungsbildungsprozesse, die in diesen Tagen, in denen mit Ehud Olmert ein Premierminister mit wenig Rückhalt regiert, vor allem von der Frage der Erhaltung der Koalition geprägt werden, noch lange nicht, dass es am Ende nicht doch so gemacht wird – den Segen der Rechten, von denen einige schon vom Wiederaufbau der Siedlungen im Gazastreifen träumen, hätte er.

Der große Verlierer bei allen Optionen wäre Präsident Mahmud Abbas: Er müsste klar gegen Israel Stellung beziehen, könnte das aber nicht, wenn man seine Fatah-Fraktion die Regierung im Gazastreifen übernehmen ließe, womit er in den Augen der Palästinenser endgültig zur Marionette würde. Hinzu kommt, dass, je länger die israelische Operation andauern, die Gefahr steigt, dass es auch im Westjordanland und Ost-Jerusalem zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt, die sich früher oder später dann auch gegen Abbas und seine Sicherheitskräfte richten könnten, wenn dieser nicht klar gegen Israel Stellung bezieht.

Doch das ist nicht so einfach, wie es klingt: Vor allem die Vereinigten Staaten drängen ihn dazu, nichtsdestrotz die Verhandlungen mit Israel fortzusetzen; ein Statusabkommen bis Ende 2008 (vgl. Anfang vom Ende oder Ende vom Anfang?) sei immer noch möglich, so US-Außenministerin Condoleeza Rice in Washington. Das Druckmittel: Geld. Und zwar viel davon. Die US-Regierung ist einer der größten Geldgeber an die Palästinensische Autonomiebehörde. Und sie will, dass im Nahen Osten positive Akzente gesetzt werden, so lange in den Vereinigten Staaten Wahlkampf herrscht.

Abbas in Schwierigkeiten

Nur: Für Abbas ist dies ein Problem. Viele Palästinenser sehen Operation „Warmer Winter“ als Krieg gegen das gesamte palästinensische Volk, und Gaza als Teil Palästina. Sollte Abbas trotzdem mit Israel verhandeln, möglicherweise einen Deal abschließen, der nur das Westjordanland beinhaltet (siehe Gute Seiten, Schlechte Seiten), wäre das ein Eingeständnis der Teilung des noch zu gründenden Staates.

Die Lösung des Dilemmas scheint Abbas momentan darin zu sehen, selbst eine Vermittler-Rolle einzunehmen: Er bietet an, als Zwischenmann bei Verhandlungen zwischen Hamas und Israel über einen Waffenstillstand zu fungieren und verweist darauf, dass die Organisation durchaus dazu bereit sei.

Nur: Israel lehnt dies derzeit ab, und nichts deutet darauf hin, dass sich diese Haltung bald ändern wird, denn die Hamas stellt für einen Waffenstillstand Forderungen, die zur Zeit Gegenstand der Statusverhandlungen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde sind: die Grenzen des künftigen palästinensischen Staates, zum Beispiel. Aber auch die Flüchtlingsfrage und Jerusalem. „Wenn wir einfach die Forderungen der Hamas akzeptieren würden, könnten wir auf alle weiteren Verhandlungen mit den Palästinensern verzichten“, sagt ein Sprecher der israelischen Regierung.

So deutet im Moment alles darauf hin, dass die Mittel der Wahl auf beiden Seiten bis auf Weiteres militärisch sein werden: Am Dienstag drangen in den Abendstunden wieder Panzer in den Gazastreifen ein; es gab schwere Gefechte mit Kämpfern der Hamas. Die Hasbarah-Handbücher der Regierung werden also wohl auf absehbare Zeit ihren Dienst erfüllen müssen.