Russland: Neue humanitäre Pause in Aleppo

Abu Muhammad al Julani,Chef von al-Nusra (bzw. Jabhat Fath al Sham), 2. von rechts, bei der Aleppo-Strategie-Besprechung. Foto: Propagandamaterial der Gruppe

Spekuliert wird über eine Eskalation der Gewalt nach dem Scheitern der Waffenpause

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Für den heutigen Freitag, den 04. November, hat das russische Verteidigungsministerium eine neuerliche Einstellung der Angriffe auf regierungsfeindliche Milizen in Ost-Aleppo angekündigt. Die „humanitäre Pause“ wurde laut der russischen Nachrichtenagentur Tass bereits am Mittwoch von Präsident Putin angeordnet. Sie hat das Einverständnis der syrischen Regierung. Dauernd soll sie von 9 Uhr Ortszeit morgens bis 19 Uhr.

Nach russischer Darstellung, wie sie der stellvertretende Verteidigungsminister Sergej Ryabkov übermittelt, hätten die russische wie auch die syrische Luftwaffe ohnehin seit 17 Tagen keine Operation mehr in diesem Bereich durchgeführt. Die Gegenseite habe in der letzte Woche 64 Angriffe auf den Westen Aleppos ausgeführt. Nach russischen Informationen seien dabei 127 Zivilisten in Vierteln, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden, umgekommen, 254 wurden verletzt.

Wie schon zuvor würden am Freitag insgesamt acht Flucht-Korridore bereitgestellt, sechs für die Zivilbevölkerung, zwei für Milizen. Die islamistische Miliz Nour al-Din al-Zenki (auch al-Zinki oder al-Zanki) hatte bereits bekanntgegeben, dass sie auch das neue Angebot ablehnen wird. Die Miliz war lange Zeit mit dem CIA-Prüfsiegel auf der Liste der von den USA unterstützten „Rebellen“.

Milizen: Verhandeln nur über den Abzug Russlands

Nour al-Din al-Zenki sorgte im Juli international mit dem Enthauptungsvideo, dessen Opfer ein vermutlich zehn- oder zwölfjähriger Palästinenser war, für Schock und ein PR-Fiasko der US-Unterstützung. Es hieß offiziell, dass die Unterstützung schon länger eingestellt wurde.

Weniger bekannt ist, dass Yasser Youssef, einer der al-Zenki-Kommandeure, der Sohn eines früheren Offiziers der syrischen Armee, Ibrahim el-Youssef, ist, der 1979 ein Massaker im Osten Aleppos - in der Aleppo Artillery School -anrichtete: Alawitische Kadetten wurden niedergeschossen. Die Offensive der dschihadistischen Milizen im August dieses Jahres bekam den Operationsnamen "Ibrahim Al Youssef Battle". Selbst für den Sympathisanten der Aufständischen gegen Baschar al-Assad, den syrischen Autor Hassan Hassan, war die Namensgebung „ein neues Tief“.

Vor einiger Zeit hat die Gruppe, die von der türkischen Regierung nach wie vor als FSA-Truppe bezeichnet und in ihre Dienste genommen wird, auch offiziell ihr Bekenntnis zum syrischen Dschihad abgegeben. Sie schloss sich der von al-Nusra und Ahrar al-Sham geführten Jaish al-Fatah an.

Der al-Zenki- Kommandeur Yasser Youssef wird von der Financial Times aktuell damit wiedergegeben, dass ein Eingehen auf Russlands Vorschlag „humanitäre Pause“ aus Sicht der Gruppe unmöglich ist. Zu verhandeln sei lediglich der Rückzug Russlands aus Syrien. Man sei erst am Beginn von militärischen Operationen, welche die Belagerung brechen sollen. Die britische Zeitung fügt dem hinzu, dass die „meisten“ Milizen und deren Anhänger den russisch-syrischen Vorschlag ablehnen, weil er einen „erzwungenen demografischen Wechsel“ darstelle.

Das „demografische Kapital“ der Milizen

Dass die neu angekündigte Feuerpause mit den angebotenen Evakuierungs- bzw. Fluchtkorridoren mehr erreichen können als ihr Vorläufer im Oktober, damit dürfte niemand rechnen. Wie bereits berichtet ([Link auf 49831]), hatten Milizen eine größere Fluchtbewegung von Zivilisten durch Feuerbeschuss von Korridoren und Bussen vereitelt.

Geht es nach Informationen einer Familie, der die Flucht aus einem Viertel im Osten Aleppos an Tagen um den 23. Oktober dennoch geschafft hat, so sind Ausreisewillige harten Drohungen gegen Leib und Wohl von Familienmitgliedern ausgesetzt. Dazu gebe es „Sicherheitsringe“ in den Vierteln, gebildet von bewaffneten Milizen, um Fluchtversuche schon frühzeitig zu unterbinden.

Ob dies in den genannten Details stimmt, ist wie so oft nicht überprüfbar. Der Name des Journalisten, der die Familie befragt hat, ist bekannt: Robert Fisk. Leider steht er nicht für unbedingte Verlässlichkeit. Interessant sind die Ausführungen der Familie vom Leben in den von Rebellen kontrollierten Gebieten dennoch. Sie decken sich, etwa was die Zusammensetzung der Milizen betrifft, mit Aussagen, die man auch aus anderen Berichten erfahren konnte, zum Beispiel auf der Seite des US-Magazins Long War Journal.

Dass Bewohner von Milizen als Geiseln gehalten werden, erfährt der Leser von Fisk auch nicht zum ersten Mal. Auch der von der Financial Times mitgeteilte Einwand der dschihadistischen Milizen, wonach die Fluchtmöglichkeiten als einen von der Regierung „erzwungenen demografische Wechsel“ verstanden werden, geht in diese Richtung.

“Aussichten auf Verhandlungen auf einen unbestimmten Zeitpinkt verschoben“

Dass die russische Regierung trotz der geringen Erfolgsaussichten noch einmal eine humanitäre Pause versucht, darüber kann man nur spekulieren. Einiges spricht dafür, dass dies vor einer größeren Angriffswelle auf Stellungen der gegnerischen Milizen in Ost-Aleppo und al-Bab geschieht, mit der Beobachter rechnen.

Zumal die Allianz der dschihadistischen Rebellen seit Ende Oktober in einer neuen Offensive versuchen, die Belagerung aufzubrechen, ohne Rücksichten auf die Zivilbevölkerung.

Der erwähnte Artikel der Financial Times zitiert den russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu damit, dass die „Aussichten auf einen Verhandlungsprozess und die Rückkehr zu einem friedlichen Leben in Syrien für die Dauer einer undefinierten Zeit aufgeschoben sind“. Und ein Artikel der TASS deutet an, dass die Kritik an einer Intensivierung russisch-syrischer Angriffe gegen ihre Opponenten nicht mehr so schrill ausfallen könnte.

Denn die Luftangriffe der US-geführten Koalition führen zu zivilen Opfern, wie die russische Nachrichtenagentur berichtet. Es ist eine Frage der Zeit, bis sich solche Meldungen in der westlichen Öffentlichkeit häufen. Die bisher eingenommene hehre Position des Westens gegenüber dem unbarmherzigen militärischen Vorgehen Syriens und Russlands gegen Dschihadisten in Aleppo wird in der Öffentlichkeit entzaubert. Der Wahltermin in den USA rückt näher, der Erfolg in Mosul nicht.