"Russland auf Sanktionen vorbereitet"

Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main. Bild: Epizentrum / CC-BY-SA-3.0

Der Wirtschaftswissenschaftler Hansjörg Herr über den europäischen Finanzmarkt, die EZB und die Folgen des Einmarsches der russischen Armee in die Ukraine

Herr Professor Herr, am 24. Februar hat Präsident Putin den Befehl erteilt, in die Ukraine einzumarschieren. Welche Maßnahmen könnten erforderlich werden von Seiten der Regierungen der EU und auch der Europäischen Zentralbank, EZB, aufgrund dieser Sachlage?

Hansjörg Herr: Es ist zu vermuten, dass sich die Preise für Öl, Gas und andere Rohstoffe erhöhen und sich dadurch das aktuelle Inflationsproblem verschärft. Eine geldpolitische Bekämpfung dieser Inflationsquelle ist für Wachstum und Beschäftigung sehr kostspielig. Die EZB sollte somit nur sehr vorsichtig zu restriktiver Geldpolitik übergehen und dafür plädieren, dass es möglichst keine Zweitrundeneffekte in Form stärkerer nomineller Lohnerhöhungen in der Währungsunion gibt.

Mit welchen Maßnahmen könnte sie diese Zweitrundeneffekte vermeiden?

Hansjörg Herr: In einem normalen Nationalstaat würde in der gegenwärtigen Situation, Zentralbank, Regierung und Gewerkschaftsführungen zusammensitzen und eine Art "Sozialvertrag" abschließen. Der könnte dann zum Inhalt haben, dass Lohnerhöhungen dem langfristigen Trend folgen, nämlich der gesamtgesellschaftlichen Produktivitätsentwicklung plus einer niedrigen Inflationsrate.

Professor Hansjörg Herr lehrte an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Er war Professor für supranationale Wirtschaftsintegration und ist Mitautor des Buches Die Europäische Zentralbank, bei Metropolis im Jahre 2022 erschienen. Ferner ist er Mitautor einer Anzahl weiterer Publikationen, unter anderem einer paradigmenorientierten Einführung in die Volkswirtschaftslehre.

Die Zentralbank würde nicht auf restriktive Geldpolitik umschalten und die Regierung würde besonders betroffene Arbeitnehmer und andere Gruppen durch Transfers unterstützen und durch expansive fiskalische Maßnahmen einen Konjunktureinbruch verhindern. Leider gibt es auf der Ebene der Währungsunion keine relevanten Gewerkschaftsvertretungen.

Die EZB und Europäischen Kommission könnte gleichwohl im Rahmen des Makroökonomischen Dialogs einen runden Tisch einberufen und mit europäischen Gewerkschaften, Zentralbank und Regierungen die Lage besprechen.

Die Europäer scheinen, was die Entwicklung der Ukraine anbelangt, einig zu sein, mit einer Stimme sprechen zu wollen. In den Finanzkrisen der vergangenen Jahre war das nicht der Fall gewesen, oft wurde auch in Deutschland die nationale Wirtschaft beschützt. Könnte die gegenwärtige Ukraine-Krise eine Chance sein, mehr Gemeinsamkeiten auch in der Wirtschafts- und Finanzpolitik zu finden?

Hansjörg Herr: Da die Kosten von Sanktionen für verschiedene westliche Länder unterschiedlich sind, wird man bis zu einem gewissen Grad mit einheitlicher Stimme sprechen. Sehr harte Maßnahmen wird es vermutlich nicht geben. Zudem ist Russland auf Sanktionen vorbereitet. Sie haben schon in der Vergangenheit den Aufbau eigener Industrien in Russland befördert. Sie führen zu einer erzwungenen Industriepolitik mit möglicherweise langfristig positiven Folgen. Zudem bleiben China und eine Reihe anderer Länder als Handelspartner.

Sanktionen zwingen Russland zur Umstellung der Industrie

Wenn ich Sie recht verstehe, heißt das, dass Russland die EU eigentlich nicht braucht. Das würde aber bedeuten, dass sich die beiden Wirtschaftsräume EU und Russland entkoppeln könnten. Ist das möglich oder welchen Alternativen gibt es?

Hansjörg Herr: Russland ist derzeit vom Verkauf seiner Rohstoffe abhängig und der industrielle Sektor entwickelt sich schlecht. Das ist typische für Länder mit vielen Rohstoffen. Aber Sanktionen haben schon in der Vergangenheit in Russland zu einer gewissen Umstellung der Industrie in Richtung mehr Autonomie geführt.

Neue und schärfere Sanktionen beschleunigen dies. Und falls es Russland aufgrund des ausländischen Drucks gelingt, eine bessere Industriepolitik wie in der Vergangenheit zu betreiben, dann könnten Sanktionen die ökonomische Entwicklung in Russland bezüglich des Aufbaus einer effizienteren eigener Industrie und Produktivitätsentwicklung stärken. Es scheint sehr plausibel, dass der Einfall Russlands in die Ukraine die Globalisierung reduziert. In diesem Zusammenhang ist zudem der schwelende und ebenfalls sehr tiefe Konflikt zwischen den USA und China zu sehen.

In den vergangenen Jahrzehnten gab es den Zusammenbruch des Neuen Marktes ab 2001, die Finanzmarktkrise 2008, den Steuerskandal um die Cum-Ex-Geschäfte der Banken und Investoren. Warum hat die Politik auf die, oft bedrohlichen, Entwicklungen auf den Finanzmärkten so spät reagiert, diese nicht früher gesehen?

Hansjörg Herr: Beginnend in den 1970er-Jahren, aber insbesondere in den Jahrzehnten danach, hat man die nationalen und internationalen Finanzmärkte reguliert. Dies war eine politische Entscheidung, unterstützt von Vorstellungen vieler Ökonomen, dass Finanzmärkte an sich stabil seien. Es wurde nicht begriffen, dass Finanzmärkte von sich heraus Instabilitäten erzeugen. Man hat dann einfach die Augen zugemacht und geglaubt, dass es keine Finanzkrise geben würde.

Fehlt der Politik also die Sensibilität für die Finanzmärkte, wie früher schon den Ordoliberalen um Ludwig Erhard, die die Finanzmärkte eigentlich nicht zur Kenntnis genommen haben?

Hansjörg Herr: Ich würde sagen, dass der Politik das Verständnis für das Funktionieren der Finanzmärkte fehlt. Es wird beispielsweise nicht gesehen, dass sowohl die Aktien- sowie auch Immobilienblasen von den Finanzmärkten getrieben sind, auch derzeit wieder die Verschuldung insbesondere vieler Länder des Globalen Südens gefährlich hoch ist und sich im Schattenfinanzsystem Aktivitäten abspielen, welche nicht nur keinen gesellschaftlichen Nutzen haben, sondern sogar höchst gefährlich sind.

Es fehlt das Verständnis, dass strikt regulierte Finanzmärkte für die Entwicklung von Ökonomien besser geeignet sind als das jetzige Finanzsystem. Stärker regulierte Finanzmärkte fördern zudem eine ausgeglichenere Einkommensverteilung und geringere Steuerhinterziehung und Geldwäsche.

Als 2008 die Finanzmarktkrise in ihrer Tragweite unübersehbar war, soll Präsident Sarkozy von Frankreich gesagt haben, so war es zu lesen, dass diese Krise eine europäische Antwort braucht. Angela Merkel meinte, dass jetzt erst die Nationalstaaten bei sich zu sorgen hätten. Hat man damals zu spät europäisch gehandelt? Was hätte man Ihrer Ansicht nach handeln sollen?

Hansjörg Herr: In der Tat wurde nach der Finanzmarktkrise 2008 ein gemeinsames Vorgehen zur Stabilisierung und Reform der Finanzmärkte vorgeschlagen und von Deutschland nicht aufgegriffen. Zwar wurde dann in der Europäischen Währungsunion einen Bankenunion geschaffen, aber der gemeinsame Abwicklungs- und Hilfsmechanismus für Finanzinstitute in der Währungsunion ist immer am Anfang und eine gemeinsame Einlagensicherung gibt es nicht ebenso wenig wie ein einheitlicher Aktienmarkt.

Weitere Schritte wären notwendig gewesen, einschließlich eine Fiskalunion und Eurobonds, die für die Währungsunion eine gemeinsame sichere Anlage bieten würden. Im neuen Buch über die EZB haben wir, also Michael Heine und ich, das ausgeführt.

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