Sachbücher des Monats: Juli 2021

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung

Jeden Monat neu präsentiert von der Neuen Zürcher Zeitung, der Literarischen Welt, RBB Kultur, dem ORF-Radio Österreich 1 und Telepolis.

Philipp Sarasin
1977
Eine kurze Geschichte der Gegenwart

1977 startete die RAF ihre "Offensive 77", wurde in Paris das Centre Pompidou eröffnet, in Kalifornien der Apple II lanciert - und das Internet erfunden. Was bedeuten diese merkwürdigen Gleichzeitigkeiten? Warum sprach zur selben Zeit Jimmy Carter von den "human rights", sprachen schwarze Aktivistinnen von "identity politics", Esoteriker vom "New Age" und Architektinnen von "symbolischen Formen"? Warum gleichzeitig Punk, Disco und Hip-Hop? Und warum sagte Michel Foucault 1977: "Wir müssen ganz von vorne beginnen"? Philipp Sarasin untersucht in seinem Buch die Linien, Muster und Ähnlichkeiten, die diese und andere Ereignisse des Jahres 1977 miteinander verbinden - und er erzählt davon, wie der Glaube an ein gemeinsames Allgemeines, der die Moderne formte, zu zerbröckeln begann. "1977" führt uns ein Jahr vor Augen, in dem nur die Unsicherheit gewiss und die Ahnung verbreitet war, dass die alten Koordinaten der industriellen Gesellschaft in Zukunft keine Orientierung mehr bieten würden.
Suhrkamp Verlag, 505 Seiten, € 32,00
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Martyn Rady
Die Habsburger
Aufstieg und Fall einer Weltmacht

Eine Dynastie wie die Habsburger hat es in der Geschichte nicht noch einmal gegeben. Aus einer kleinen Grafenfamilie im Südwesten Deutschlands wurde ein Herrschergeschlecht, das die römisch-deutsche Kaiserwürde eroberte und sich gleichzeitig ein eigenes Imperium entlang der Donau aufbaute. Mehr noch: Das Reich der Habsburger erstreckte sich zeitweilig über mehrere Kontinente, in ihm ging tatsächlich die Sonne nicht unter, wie die Zeitgenossen bewundernd sagten.
Übersetzt von Henning Thies.
Verlag Rowohlt Berlin, 624 Seiten, € 34,00
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Michel Winock
Flaubert

Ein junger Mann aus wohlhabendem Hause, begabt, aber scheinbar ohne jeden Ehrgeiz: Gustave Flaubert war bereits 35 Jahre alt, als er mit "Madame Bovary" über Nacht berühmt und berüchtigt wurde. Mit ihm beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte der Weltliteratur. Michel Winock erzählt in seiner Biografie von Flauberts Leben in der Normandie und Paris und von seinen Reisen, die ihn bis in den Orient führten.
Übersetzt von Horst Brühmann und Petra Willim.
Carl Hanser Verlag, 655 Seiten, € 36,00
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Bénédicte Savoy u.a. (Hg.)
Beute
Eine Anthologie zu Kunstraub und Kulturerbe

Weltgeschichte in Bildern neu erzählt: vom wechselhaften Leben der Objekte zwischen Erwerb, Entwendung und Restitution. Im Zentrum dieses Bildatlas steht die Ikonographie von "Beutenahmen" und "Entwendungen", "Beschlagnahmungen", "Zwangsgaben" oder schlicht und einfach: Raubgütern. Erzählt wird Weltgeschichte hier nicht nur über Objekte im Kontext ihrer Entstehung oder Präsentation, sondern im Spiegel der wechselhaften Eigentumsverhältnisse, in denen sie sich befanden, und der Besitzansprüche, die an sie gestellt werden.
Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe.
Verlag Matthes & Seitz, 2 Bände, zusammen 820 Seiten, jeweils € 38,00 (€ 76,00)
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Konrad Paul Liessmann
Alle Lust will Ewigkeit
Mitternächtliche Versuchungen

Die zentralen Fragen des menschlichen Lebens innerhalb der zwölf mitternächtlichen Glockenschläge: Nietzsches "O Mensch! Gib Acht!" nähert sich in nachtschwarzen Gedanken den Abgründen des Menschseins, den unbewussten Tiefen unserer Gefühle und Affekte und dem bis zur Unerträglichkeit gesteigerten Spannungsfeld von Schmerz und Lust, von Leben und Tod. Welch zentrale Dimension für unser politisches und kulturelles Selbstverständnis dieser geheimnisvolle Text darstellt, zeigt Konrad Paul Liessmann, indem er Nietzsches Denkbewegungen und Sprachfiguren in unsere Gegenwart und in unser Leben weiterführt - von der Mitternacht bis zur Ewigkeit.
Paul Zsolnay Verlag, 320 Seiten, € 26,00
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Sophie Passmann
Komplett Gänsehaut

Sophie Passmann behandelt den unerträglichen Habitus einer Bürgerlichkeit, durch die sie selbst geprägt wurde. Bloß nicht so werden, wie alle anderen um sich herum. Bloß nicht so werden, wie man schon längst ist. Bloß schnell erwachsen werden, um in die transzendentale Form des Verklärens eintauchen zu dürfen, die Jugend als "die beste Zeit des Lebens" zu feiern. Sophie Passmann zieht uns mit rein ins tiefe Tal der bürgerlichen Langeweile im westdeutschen Mittelstand. Sie geht vehement vor gegen die hedonistische Haltung einer wohlgemerkt nicht homogenen Generation, die ihr selbst nur allzu bekannt ist.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, 192 Seiten, € 19,00
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Moritz Rudolph
Der Weltgeist als Lachs

Moritz Rudolph erklärt uns unsere Gegenwart auf ganz neue Weise, indem er sie mit dem Objektiv der Dialektik ins Visier nimmt. Er beleuchtet Fukuyamas "Ende der Geschichte", hebt sie mit Horkheimer aus den Angeln und stellt sie mithilfe einer Neuinterpretion der Kenosis von den Füßen auf den Kopf: Ist es möglich, dass der Weltgeist mit kurzem Zwischenstopp im Silicon Valley erst in China zu sich selbst kommt, um uns plötzlich als künstliche Intelligenz zu erscheinen? Er würde damit Hegel selbst das Fürchten lehren: Wenn Geschichte das ist, was nur von Menschen geschrieben werden kann, dann mag das Ende der Geschichte nah sein.
Verlag Matthes & Seitz (Fröhliche Wissenschaft), 126 Seiten, € 12,00
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Ayaan Hirsi Ali
Beute
Warum muslimische Einwanderung westliche Frauenrechte bedroht

Nicht alle muslimischen Männer verachten Frauen, manche allerdings schon. Viele muslimische Männer haben ein radikal anderes Frauenbild, als es bei uns üblich ist. Mit der verstärkten Zuwanderung aus muslimischen Ländern nimmt die Gewalt gegen Frauen nachweislich zu, und Frauen werden dadurch in ihrer Bewegungsfreiheit immer stärker eingeschränkt. Nicht nur muslimische Frauen, sondern alle Frauen in westlichen Demokratien. Falsche Toleranz, so Hirsi Ali, hilft hier nicht weiter. Denn wir laufen Gefahr, unsere hart erkämpften Freiheitsrechte zu verlieren. Nur indem wir die Probleme klar benennen und die Bedrohung emanzipatorischer Errungenschaften durch Einwanderer aus muslimisch-arabischen Kulturkreisen anerkennen, nehmen wir Populisten den Wind aus den Segeln. Und nur dann kann Integration erfolgreich sein.
Übersetzt von Karsten Petersen und Werner Roller.
Verlag C. Bertelsmann, 425 Seiten, € 22,00
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Vince Beiser
Sand
Wie uns eine wertvolle Ressource durch die Finger rinnt

Unsere Welt ist auf Sand gebaut, denn als Grundstoff von Beton steckt Sand in fast allen Gebäuden und Straßen. Auch für die Produktion von Computerchips, Papier und Zahnpasta ist er notwendig. Sand ermöglicht unseren heutigen Lebensstil, daher ist er in geeigneter Qualität längst Mangelware. Vince Beiser nimmt uns mit in das Reich des Sandes, zu seinen Quellen, Einsatzmöglichkeiten und zu den Konflikten um seine Förderung. Er erzählt die Geschichte eines Stoffes, ohne den unser modernes Leben nicht möglich wäre - und zeigt auf, was uns droht, wenn er ausgeht.
Übersetzt von Bernhard Jendricke, Christa Prummer-Lehmair und Gerlinde Schermer-Rauwolf.
oekom Verlag, 315 Seiten, € 26,00
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Pankaj Mishra
Freundliche Fanatiker
Über das ideologische Nachleben des Imperialismus

Pankaj Mishra nimmt die selbstzufriedenen Gedankengebäude des Westens in den Blick. Er zeigt, dass der Mythos vom "überlegenen Westen" bis heute nicht hinterfragt wird. Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus werden aus der Erzählung vom demokratischen Aufstieg verbannt, einfache, von Ressentiments geprägte Welterklärungen werden zum Mainstream. So entstand der Neoliberalismus aus der Angst der Weißen um ihre Vorherrschaft. Und der westliche Liberalismus ist gar nicht so liberal, denn er definiert die eigene Kultur als die maßgebliche und brandmarkt andere Entwürfe als rückständig oder autoritär. Die wahren Feinde der Demokratie aber sind jene, die angeblich ihre Werte verteidigen: Dies zeigt der in den USA tief verwurzelte Rassismus ebenso wie die Angst vor islamistischen Invasoren.
Übersetzt von Laura Su Bischoff und Michael Bischoff.
S. Fischer Verlag, 304 Seiten, € 24,00
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Besondere Empfehlung des Monats Juli von Barbara Vinken:

Emanuele Coccia
Metamorphosen
Das Leben hat viele Formen. Eine Philosophie der Verwandlung

Was ändert sich für uns Menschen, wenn wir uns nicht länger als Individuen betrachten, sondern als Teil des einen Lebens auf der Erde? Die Raupe baut einen Kokon, verwandelt sich in einen Schmetterling und verändert damit grundlegend ihre Form. Diese Beobachtung führt Emanuele Coccia zu der Annahme, dass auch der Mensch kontinuierlich Metamorphosen durchläuft: Der Fötus wird zum Erwachsenen, der sich am Ende seines Lebens in Atome auflöst und von anderen Lebewesen aufgenommen wird. Coccia verbindet Philosophie und Evolutionsbiologie in seiner Neuvermessung unserer Existenz. Und ermöglicht uns ein neues Verständnis davon, wie wir als Menschen mit der Welt verbunden sind.

Nichts ist ein besseres Antidote für Lethargie und Depression, die sich während der Pandemie ausgebreitet haben, als Emanuele Coccias Metamorphosen. Ein Buch, das Kraft und Atem gibt, unsere Ich-Zentriertheit, unser Gefangensein in uns, unsere angstvolle Selbstbezogenheit aufzugeben und uns vertrauensvoll dem Strom Leben, der Welt, den Anderen in immerwährender Wandlung zu öffnen.

Barbara Vinken

Übersetzt von Caroline Gutberlet.
Carl Hanser Verlag, 208 Seiten, € 23,00
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Die Jury: Tobias Becker, Der Spiegel; Manon Bischoff, Spektrum der Wissenschaft; Kirstin Breitenfellner, Falter, Wien; Natascha Freundel, RBB-Kultur; Dr. Eike Gebhardt, Berlin; Prof. Dr. Wolfgang Hagen, Leuphana Universität Lüneburg; Knud von Harbou, Publizist und Autor, Feldafing; Prof. Jochen Hörisch, Universität Mannheim; Günter Kaindlstorfer, Wien; Dr. Otto Kallscheuer, Sassari, Italien; Petra Kammann, FeuilletonFrankfurt; Jörg-Dieter Kogel, Bremen; Dr. Wilhelm Krull, The New Institute, Hamburg; Marianna Lieder, Freie Kritikerin, Berlin; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Marc Reichwein, DIE WELT; Thomas Ribi, Neue Zürcher Zeitung; Prof. Dr. Sandra Richter, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar; Wolfgang Ritschl, ORF Wien; Florian Rötzer, München; Norbert Seitz, Berlin; Mag. Anne-Catherine Simon, Die Presse, Wien; Prof. Dr. Philipp Theisohn, Uni Zürich; Dr. Andreas Wang, Berlin; Prof. Dr. Harro Zimmermann, Bremen; Stefan Zweifel, Zürich.

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