Sauerstoffspeicher des Gehirns

Die Standardinterpretation zur Lokalisierung von aktiven Arealen mit bildgebenden Verfahren könnte falsch sein

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Was wäre die Hirnforschung heute ohne die bildgebenden Verfahren, mit denen sie auf nicht-invasive Weise Einblick in die Gehirnaktivität gewinnt. Man geht allgemein davon aus, dass bei bestimmten kognitiven Aufgaben diejenigen Areale stärker durchblutet werden, die mit deren Bewältigung zu tun haben, weil dort der Sauerstoff- und Glukoseverbrauch ansteigt. Nach einer Untersuchung von Wissenschaftlern der Washington University School of Medicine in St. Louis stimmt diese Annahme nicht, was erhebliche Konsequenzen für die Forschung haben könnte.

Die Kartierung des menschlichen Gehirns, neben dem Humangenomprojekt das fast ebenso bedeutende Projekt der Neurowissenschaften, erfolgt weitgehend durch bildgebende Verfahren. Mit der Positronenemissions-Tomographie (PET), bei der radioaktive Substanzen injiziert werden, oder der funktionalen Kernspin-Tomographie (fMRI), bei der der Patient in einem starken Magnetfeld liegt und die Ausrichtung der Wasserstoffatome im Körper mit Radiowellen gemessen wird, können Veränderungen des Sauerstoff- und Glukoseverbrauchs über den Blutfluss erfasst werden. Trägt man Versuchspersonen auf, etwas Bestimmtes zu tun, beispielsweise etwas zu lesen, zu sprechen oder zu lösen, so geht man davon aus, dass die Gehirnareale, die dabei aktiv sind, stärker durchblutet werden.

Das Gehirn ist durchzogen von einem feinen Netz an Kapillaren, die die energiehungrigen Neuronen mit Sauerstoff und Glukose versorgen. Allgemein setzt man voraus, dass die nicht für aktuelle Aufgaben benötigten Areale weitgehend ruhen. Robert Shulman von der Yale University hatte schon anhand von NMR-Messungen (Kernspin-Tomographie) zeigen können, dass Neuronen auch im Ruhezustand feuern. Auch beim wachen, ruhenden und nicht-stimulierten Gehirn werden 70 bis 80 Prozent der Energiemenge, die das mit Aufgaben beschäftigte Gehirn benötigt, für Glutamatsignale verbraucht. Die Differenz sei aber oft zu gering, um nach der üblichen "Subtraktionsmethode" kognitive Prozesse lokalisieren zu können, durch die man für bestimmte Aufgaben spezifische Stoffwechselerhöhungen von unspezifischen unterscheiden will (Auch im Ruhezustand feuern die Neuronen).

Auf andere Weise untergraben jetzt die Ergebnisse von Mark Mintun und seinen Kollegen, die sie in den Proceedings of the National Academy of Sciences vom 5. Juni veröffentlicht haben ("Blood flow and oxygen delivery to human brain during functional activity: Theoretical modeling and experimental data") , die Standardinterpretation der Bilder. Mit PET untersuchten die Wissenschaftler den Blutfluss bei neun gesunden Versuchspersonen, während sie sich auf ein weißes Kreuz auf einem schwarzen Hintergrund konzentrieren und einen Knopf drücken sollten, wenn das Kreuz schwächer wird. Ausgeführt wurde diese Aufgabe unter normalen Luftbedingungen und unter sauerstoffärmeren Bedingungen, wie man sie in einer Höhenlage von etwa 4000 Meter finden würde.

Nach der Theorie müsste der Blutfluss schnell ansteigen, wenn jemand eine Aufgabe lösen will, aber der Sauerstoffanteil in der Luft gering ist. Doch die Versuchspersonen in der sauerstoffarmen Atmosphäre benötigten nicht mehr Sauerstoff als die Personen der Vergleichsgruppe. Der Blutfluss im Gehirn ist zumindest nicht direkt mit der Menge des Sauerstoffs verbunden, die der Körper aufnimmt.

Aufgrund dieser Ergebnisse schauten sich die Wissenschaftler die mathematischen Modelle des Blutflusses im Gehirn an. Diese gehen davon aus, dass ein unverhältnismäßig starke Zunahme des Blutflusses im Gehirn notwendig sei, um während der Tätigkeit eine geringe Zunahme des Sauerstoffverbrauchs auszugleichen. Die Modelle nehmen überdies an, dass wegen des hohen Sauerstoffbedarfs des Gehirns der vom Blut zu den Zellen transportierte Sauerstoff nicht wieder aufgenommen wird. Mintun und Kollegen strichen diese Bedingung der Einbahnstraße des Sauerstoffflusses und konnten daraufhin feststellen, dass eine beachtliche Menge hin- und hertransportiert wird, so dass das Gehirn womöglich über einen "dynamischen Puffer" verfügt, der angezapft wird, wenn der Sauerstoffbedarf steigt.

Nach den Untersuchungen der Wissenschaftler verfügt das Gehirn auch über mehr Kapillaren, als unbedingt nötig wären. So könnten die zusätzlichen Blutgefäße vielleicht als Vorratsspeicher für Sauerstoff dienen. Offenbar reagieren andere Tiere wie Ratten oder Primaten kognitiv empfindlicher auf geringere Sauerstoffkonzentrationen. Daher wollen Mintun und Kollegen bestimmen, ob die Gehirne von Tieren weniger Kapillaren besitzen. Würde sich dies bestätigen, wären Tiermodelle in der Neurowissenschaft, bei denen kognitive Aktivitäten mit dem Blutfluss verbunden werden, von geringerem Nutzen.

Auch wenn möglicherweise die Grundannahme, dass neuronale Aktivität an den Arealen vorliegt, die stärker durchblutet werden, sich als nicht richtig erweisen sollte, bleibt erhöhter Blutfluss dennoch irgendein Indiz für eine Veränderung: "Warum jedoch der Blutfluss zunimmt", so Mintun, "ist jetzt unklar. Wenn wir dies verstehen, wird sich damit wahrscheinlich auch unser Verständnis des menschlichen Gehirns und das Design der Untersuchungen verändern." Die Durchblutung scheint zumindest nicht direkt an den lokalen Sauerstoffbedarf gekoppelt zu sein.