Schau mir in die Augen

Rainer Heise - oder das neue Anforderungsprofil an Pädagogen

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Nachdem der für 17 Menschen tödliche Amoklauf Robert Steinhäusers im Erfurter Gutenberg-Gymnasium weltweit für Aufsehen erregt hat, stürzen sich die Medien auf den Helden von Erfurt: Geschichts- und Kunstlehrer Rainer Heise (60), selbst bescheiden, wird zum Superpädagogen stilisiert, der im blutigsten Ereignis der deutschen Nachkriegs-Schulgeschichte den Verstand behielt und den Täter in eine Verhandlungsfalle lockte. Ist Heises Verhalten ein Maßstab für den Pädagogen im Zeitalter des privaten und globalen Terrors?

Gleich vorweg: "Ich fühle mich nicht als Held. Ich habe instinktiv gehandelt und würde es wieder tun." So Rainer Heise in den Print- und TV-Interviews am Wochenende. Am Freitag Morgen herrschte Abitur-Stimmung am Gutenberg-Gymnasium. Der normale Unterricht hatte sich den Weihen des Mathe-Abiturs zu fügen und musste ohne Klingelzeichen auskommen.

Als die ersten Schüsse fielen, schickte Heise seine Kunstschüler schnell aus dem Unterrichtsraum heraus. Damit fehlte dem (Aufmerksamkeits-)Killer später das gleichaltrige Publikum, das bei den anderen Hinrichtungen zugegen war. Wenig später tauchte der dunkel vermummte Täter in Heises Nähe im Flur auf. Heise schloss sich ein, um zwischen Grauen und Hoffnung auszuharren. Dann eine halbe Stunde später: Ein Schlurfen auf dem Gang, Heise öffnet die Tür und erblickt den jungen Ninja. "Er hielt mir sofort die Pistole auf die Brust, zog sich dann die Mütze langsam vom Gesicht." Zuvor hatte ein privater TV-Sender noch behauptet, Heise hätte dem Täter direkt auf dem Gang die Mütze abgezogen, um ihn zu identifizieren. Wie auch immer: Heise erkennt einen ehemaligen Schüler. Nun folgt der Satz, in dem der Terror in die zivilcouragierte Pädagogik übergeht:

"Robert, du kannst mich jetzt erschießen. Aber du musst mir dabei in die Augen sehen."

Daraufhin zögert der Amokläufer und legt die Pistole beiseite. Mit der Demaskierung hat er die Rolle des eiskalten Killers, der schießtechnisch versiert Rache am gesamten Lehrerkollegium üben will, ein Stück weit verlassen. Möglicherweise war Heise für ihn eine Person, die er achten konnte. Jedenfalls scheint Heise ihn ansprechen, auf ihn einwirken zu können, wie auf den Schüler in alten Tagen. Warum?

Der Rest ist schnell erzählt, Steinhäuser zögert, Heise kann ihn überrumpeln und in ein Klassenzimmer locken ("Du kannst deine Pistole mitnehmen") und Robert, der vor ihm geht, auf der Schwelle hineinstoßen und einsperren. Robert erschießt sich wenig später, um der Polizei und Justiz zu entgehen. Aber die Frage bleibt: Warum ließ sich Robert von Rainer Heise beeinflussen?

Diese Frage ist außerordentlich schwierig zu beantworten. Und trotzdem: Heise warf seine Existenz in die Waagschale und setzte gegen Roberts Vermummung als Killermaschine den einschätzenden Blick des Anderen, der sein Gegenüber auch noch mitten in der Bluttat als Person ernst nimmt und an der Oberfläche gelassen bleibt. Heise ließ sich von Angst und Panik nicht irremachen, er stellte dem Gesetz des Grauens seine fragile Persönlichkeit entgegen. Ein Lehrer mit Sinn für menschliches Risiko mitten in der tödlichen Realisierung eines Gewalt-Schmuddelstreifens. Eine solche coole Autorität ohne Autorität, mit der List der Ohnmacht - das scheint Robert aus dem Takt gebracht zu haben.

Heises verantwortungsethisch hocheffektive Besonnenheit und seine Bescheidenheit jetzt im Medienrummel zeichnet ihn vor jenen politischen Saubermännern aus, die die Jugend ab sofort wertkonservativ mit Verboten von oben herab gewaltfrei machen wollen. Hätte der irrewerdende Robert früher und häufiger solche prägenden Begegnungen erlebt, dann wäre viel Leid verhindert worden, in einem Land, das auch den politischen Kampf gegen den Terror allzuoft nur noch in gesichtslosen technomilitärischen Kategorien diskutiert.

Politiker, Pädagogen, Eltern und Schülern sind sich beim Thema Gewaltfreiheit in Schulen keineswegs einig. Solange jede Gruppe ihr egoistisches Sondersüppchen kocht, wird die Idee des Unterrichts und des Schullebens als einer gewaltfreien, zivilen Öffentlichkeit, in dem Individuen zu lernfähigen und kreativen Mitgliedern einer zukunftsmächtigen Gesellschaft heranreifen, weiter verwahrlosen. Ein Lehrer wie Rainer Heise könnte ihr wieder ein Stück Lebendigkeit einhauchen, die mehr als einen Pisa-Test besteht.