Schlechte Noten für den deutschen Arbeitsmarkt

Löhne und Arbeitslosigkeit stagnieren längerfristig, im boomenden Niedriglohnsektor nähert sich Deutschland den USA an

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Zwischen 1999 und 2007 sind in der Eurozone mit den damals noch 13 Mitgliedsstaaten der EU, 13 Millionen neuer Jobs entstanden. Von besseren Jobs lässt sich aber nicht sprechen, so eine Studie des Verbunds europäischer Wirtschaftsforschungsinstitute ELNEP.

Während die arbeitsfähige Bevölkerung seit 1999 nur leicht um 0,3 Prozent angestiegen ist, wuchs die Zahl der Beschäftigten jährlich um 1,3 Prozent. Mit den 13 Millionen neuen Jobs sind 10 Prozent mehr Menschen 2007 in Arbeit, so dass der Gesamtanteil der arbeitenden Bevölkerung von 60,6 auf 64,8 Prozent zugelegt hat. 11,2 Millionen sind allerdings weiterhin arbeitslos, die Arbeitslosigkeit fiel von fast 10 Prozent auf 7 Prozent, so niedrig wie seit Jahrzehnten nicht.

In der Lissabon-Strategie hatte die EU allerdings einen Gesamtanteil von 70 Prozent bis 2010 ins Auge gefasst. Dass die Ziele nicht erreicht wurden, lag auch an den schwachen Jahren von 2002 bis 2005. Allein 2006 gab es in den 13 EU-Staaten einen größeren Zuwachs an Arbeitsplätzen als in den vier Jahren zuvor. Das bedeutet wohl auch, dass die nationale Arbeitspolitik etwa der schwarz-roten Regierung in Deutschland keine entscheidende Rolle gespielt hat. Den anderen Beschäftigungszielen der Lissabon-Strategie, die Anhebung des Anteils der arbeitenden Frauen auf 60 Prozent und der von älteren Menschen zwischen 55 und 64 Jahren auf 50 Prozent ist man allerdings mit 57 bzw. näher gekommen.

Auffällig ist, dass die Lohnzuwächse mit jährlich durchschnittlich 2,3 Prozent nur ein wenig höher lagen als die Inflationsrate (1,9%) und der Anstieg der Lebenshaltungskosten (2,1%). Der Lohnzuwachse sei daher "extrem" gering gewesen, auch wenn sie – allerdings einhergehend mit dem Anstieg der Inflation und der Lebenshaltungskosten – zuletzt größer wurden. Deutschland liegt mit Österreich und nach Italien und Belgien unterhalb des EU-Durchschnitts, was die Arbeitskosten pro Stunde betrifft. Frappant ist besonders, dass selbst im Boomjahr 2006 die Lohnstückkosten pro Stunde in Deutschland um 1,3 Prozent gesunken sind. Abgesehen von Finnland (-0,4%) sind sie in allen Ländern gestiegen, im Durchschnitt um 1,1 Prozent. In der Zeit zwischen 1999 und 2007 sind die Lohnstückkosten nur beim Exportweltmeister Deutschland um 0,5 Prozent gesunken, in allen anderen 12 Staaten sind sie angestiegen, durchschnittlich um 1 Prozent. Daher ist der Produktivitätsanstieg natürlich auch in Deutschland am größten.

In allen Ländern nimmt der Lohnanteil an den Einkommen weiter ab, während die Einkommen aus Gewinnen zulegen. Ein Grund dafür liegt wohl auch darin, dass die Zahl "atypischer Arbeitsverhältnisse" steigt, während die Gewerkschaften schwächer werden und Lohnerhöhungen "zurückhaltend" waren. Die Autoren der Studie sehen das mit Sorge, zumal die Lohnzurückhaltung auch den Effekt hat, dass die Rationalisierung und damit die Modernisierung der Produktion nachlässt: "Der Euroraum hat ein Produktivitätsproblem. Die Schwächung der Tarifverhandlungen, die den Rationalisierungsdruck der Unternehmen verringert hat, ist eine wichtige Ursache."

Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge steigen überall kontinuierlich an, seit 1999 um jeweils 2 Prozent. 20 Prozent der Jobs sind Teilzeit (vor allem Frauen), 18 Prozent befristet. Dabei sind die Unterschiede zwischen den Ländern groß. So gibt es etwa in Spanien kaum Teilzeitjobs, während ein Drittel der Beschäftigten in prekären Arbeitsverhältnissen lebt, in den Niederlanden sind bereits weit über 40 Prozent Teilzeitjobs.

Deutschland nähert sich im boomenden Niedriglohnsektor – mit den Niederlanden – britischen und amerikanischen Verhältnissen an. Gleichzeitig vergrößert sich der Unterschied zwischen niedrigen und hohen Einkommen hier besonders stark. In Dänemark sind 8,5 Prozent der Beschäftigten in Niedriglohnjobs, in Frankreich 11,1, so in Deutschland bereits 22,7, womit Großbritannien (21,7) überholt und man sich den USA (25) nähert. Nicht viel anders ist das Ergebnis des Armuts- und Reichtumsberichts. Ein Viertel der Deutschen ist arm (wenn nicht mehr). Die Kluft zwischen Armen und Reichen und zwischen Lohn- und Vermögensquote wird größer. Die Bruttolöhne gingen zwischen 2002 und 2005 real um 4,7 Prozent zurück, ein Drittel aller Beschäftigten arbeitet in Deutschland im Niedriglohnsektor. Aus mit dem Wirtschaftswunderland.

Auch im Vergleich im Hinblick auf die Qualität der Arbeit – gemessen an den Indikatoren Arbeitszeit und Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder anderen sozialen Aufgaben, Arbeitsbedingungen und Arbeitsplatzsicherheit, Weiterbildung und Karrierechancen sowie kollektive Interessenvertretung – schneidet Deutschland schlecht ab und liegt unter dem Durchschnitt, wobei Italien, Griechenland, Portugal und Spanien in diesem Punkt noch schlechter dastehen, während Dänemark an der Spitze steht, gefolgt von Schweden, den Niederlanden und Großbritannien.

Steiler Anstieg der Leiharbeit ab 2004

Die gewerkschaftsnahe Böckler-Stiftung hat sich in einer aktuellen Studie den Leiharbeitsmarkt in Deutschland näher angeschaut, von dem manche annehmen, dass er als Durchgang zu festen Arbeitsstellen dient. 1994 gab es erst 100.000 Leiharbeitskräfte, 2007 waren es bereits über 700.000. 2004 erfolgte ein steiler Anstieg (wovon der ehemalige SPD-"Superminister" Clement, der die Liberalisierung vorantrieb, heute direkt profitiert, er ist Aufsichtsrat des Zeitarbeitsunternehmens Deutscher Industrie Service (DIS) und Vorsitzender des Beirats des Adecco Instituts; Adecco, angeblich die weltweit größte Leiharbeitsfirma, hat DIS 2006 übernommen).

Nach einer Studie Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) finden 30 Prozent der Leiharbeiter nach ihrer Beschäftigung eine feste Stelle, die Hälfte von diesen findet im Laufe eines Jahres einen regulären Job bei einem Unternehmen, in dem er zuvor gearbeitet hatte. Ob dies aber auf die Beschäftigung als Leiharbeiter zurückführbar ist, lasse sich empirisch nicht belegen, auch wenn der Übergang in eine reguläre Beschäftigung für Leiharbeiter leichter als für Arbeitslose zu sein scheint. Unsicher ist auch, ob Leiharbeit reguläre Jobs verdrängt. Allerdings hätten verschiedene Untersuchungen gezeigt, dass in Betrieben, die viele Leiharbeiter beschäftigen, „stabile und große Betriebsbereiche mit Leiharbeit aufgebaut werden, während reguläre Beschäftigung abgebaut wird“. Nach einer Umfrage bei Betriebsräten hatten 26 Prozent von diesen gesagt, dass in ihrem Betrieb feste Arbeitsplätze durch Lohnarbeiter ersetzt wurden. Oft sind, so die Studie, die Arbeitsbedingungen für Leiharbeiter schlechter und die Löhne niedriger.