Schneller als live

Die Klinsmann-Kamera und die zwei Zeiten der Liveberichterstattung

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Neue Medientechniken entwickeln sich rapide und generieren immer neue Nutzungsmöglichkeiten. Gerade Olympische Spiele und Europa- oder Weltmeisterschaften der Fußballer beschleunigen die Akzeptanz von neuen Techniken und Massenmedien. Die Etablierung von Fernsehen, Farbfernsehen oder HD-Fernsehen war nicht zuletzt mit Sportevents verbunden.

Gegenwärtig ist die Anbindung des linearen Fernsehens an nichtlineare Mediatheken und Apps, an Web 2.0 und die Sozialen Medien Twitter und Facebook der neueste Trend. Fernsehen und Sport versuchen sich auch im Internet zu etablieren - und die Technik gibt ihnen viele neue, zusätzliche Möglichkeiten. Versucht man die Grundlagen der WM-Übertragungen aus Brasilien zu quantifizieren, lassen sich diese Zahlen plausibilisieren: In jedem Stadion gibt es 34 Fernsehkameras, 14 Torkameras und - etwa in Brasilia - wohl mehr als 400 CCTV-Kameras. Die Funktion der Kameras ist unterschiedlich: Die Fernsehkameras liefern Bilder für die weltweiten TV-Übertragungen; sie sollen die große Masse erreichen und emotionalisieren. Die Torkameras sollen vor allem Gerechtigkeit im Spiel, notfalls auch technisch ermöglichen, die CCTV-Anlagen dienen der Sicherheit. Ihre Bilder sind nicht öffentlich.

90 Minuten Klinsi-Cam

Beim WM-Spiel USA-Portugal am 22. Juni bot das ZDF spätabends erstmals solche zusätzlichen Internet- und App-Angebote an. Das Spiel konnte ganz traditionell als Livestream in der ZDF-Mediathek angeschaut werden. Zusätzlich gab es einen "Taktik-Blick", der es ermöglichte, das Spiel von oben zu sehen. Und dann wurde für 90 Minuten auch noch eine "Klinsmann-Kamera", eine "Klinsi-Cam", freigeschaltet. Sie übertrug ausschließlich Bilder, die Klinsmann auf, vor oder neben seiner Trainerbank zeigten. Sonst nichts. Nur 90 Minuten Klinsmann. "Klinsi Cam" war - schon der Name ließ es anklingen - fast so etwas wie eine Spy-Cam fürs Massenpublikum. Und es dauerte nicht lange, bis die ersten Twitterer anfragten, ob Klinsmann von seiner Dauerbeobachtung, die nur in Deutschland zu empfangen war, überhaupt etwas wisse.

Fernsehzuschauer mit Internetzugang konnten nun das WM-Spiel live anschauen, sie konnten während des Spiels erstmals aber auch andere Perspektiven einnehmen, von oben zuschauen oder eben nur oder zusätzlich Klinsmann beobachten. Sie konnten die Kameras wechseln, hin und her zappen - und sie konnten - es ist bereits der 23. Juni - Überraschendes erleben. Denn gegen 1.49 Uhr zeigte die "Klinsi-Cam" nicht mehr nur Klinsmann vor seiner Bank, sondern die Einwechslung des US-Spielers Omar Gonzales.

Alkle Bilder: Screenshots von den ZDF-Liveüberetragungen

Es gab keine Erklärungen, keinen Kommentar, sondern nur andere Bilder. Wenige Minuten später übertrug der reguläre ZDF-Stream Torjubel und meldete ein weiteres Tor. Die USA führen 2:1, die Spieler jubelten und bildeten um 1.54 Uhr eine Traube.

Und Klinsmann? Die "Klinsi-Cam" zeigte ihn zwei Minuten später eher geknickt zwischen seinen Spielern.

Um 1.56 Uhr verabschiedete er sich - die Arme zum Dankesgruß verschränkt - bereits vom Publikum.

Um 1.58 Uhr gab er in englischer Sprache ein kurzes Interview.

Doch warum jubelte Klinsmann so kurz nach der 2:1 Führung nicht? Warum ging er vom Platz? Warum gab er (dem ZDF?) ein englischsprachiges Interview? Und: Wie war das Spiel überhaupt ausgegangen?

Im offiziellen ZDF-Stream war das Spiel gegen zwei Uhr überhaupt noch nicht abgepfiffen worden, hier wurde munter weitergespielt und die USA führten - deutlich eingeblendet - immer noch 2:1. Gegen 2.04 Uhr wurde Spieler 3 eingewechselt.

Es war jene Einwechslung, die die "Klinsi-Cam" schon fünfzehn Minuten früher, gegen 1.49 Uhr, gezeigt hatte. Um 2.08 Uhr glich Portugal in letzter Minute zum 2:2 aus. Dann war das Spiel USA-Portugal auch im ZDF-Livestream beendet.

Beinahe zwanzig Minuten später (gegen 2.25 Uhr) wurde auch im ZDF-Stream ein Klinsmann-Interview übertragen, und Moderator Rudi Cerne wirkte ein wenig angesäuert, als er es ankündigte. Denn es ist kein eigenes, deutschsprachiges ZDF-Interview mit dem ehemaligen Bundestrainer. Es war das "Klinsi-Cam"-Nutzern schon bekannte, doch nun auch zusätzlich übersetzte Interview.

Am 23. Juni sendete @ZDFsport seinen Followern den Tweet: "Wenn der Nachbar früher jubelt: Ist euch das auch schon mal passiert? Die Erklärung." In einer Grafik wurde erläutert, dass durch Satelliten übertragene Signale nicht verzögert ankommen. DVB-T braucht 0:03 Sekunden länger, Kabel 0:07 Sekunden und der Stream 0:50 Sekunden. Der "Klinsi Cam"-Stream aber war gegen Ende des Spiels rund 15 Minuten früher als der offizielle ZDF-Livestream. Dieser berichtete auch dann noch live von dem Spiel, als dieses bereits beendet war. Live war hier längst nicht mehr live. "Klinsi-Cam" war noch schneller, schneller als live.