Schnellurteile

Die Aufarbeitung der Unruhen in Großbritannien: Wer steckt unter der Kapuze? Der Ordnungspolitiker Cameron antwortet mit Härte

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Richter und Gerichtsangestellte arbeiten non-stop. 460 Anklagen allein in London, die in Eilverfahren bearbeitet werden. 1009 Personen habe man in der Hauptstadt im Zusammenhang mit den Riots verhaftet, landesweit waren es mehr als 1.500, zitierte der Guardian gestern die Metropolitan Police, mit dem Hinweis: "There are certain to be more". 550 verschiedene Tatorte habe Scotland Yard markiert.

Die Hälfte der Verurteilten ist minderjährig. Das ist eine markante Linie, die aus der Vielzahl der Fälle aufscheint. Das große Spektrum der Anklagen und der Angeklagten widerspricht fallweise den Erwartungen und erfüllt gleichzeitig sehr viele: So kann sich jeder Interpret aus den mehrtägigen Unruhen in Großbritannien herausnehmen, was nach seiner Meinung den wichtigsten Ton angibt.

Und auch das gibt ziemlichen Krawall, wie manche Medienreaktionen zeigen. Hier tut sich ein großes Spektrum auf: Berichtet wird von "Islamisten, die zum Sturz der britischen Regierung aufrufen" und von einer Tochter aus reichem Haus, einer Studentin der Geographie und "classical civilisation", bei der die Polizei geplünderte Elektrowaren im Wert von 5000 Pfund gefunden hatte. Für den Telegraph steht sie für das Gesicht der Revolte, das "sich ziemlich von dem unterscheidet, das wir erwartet haben."

Wie viele solcher Thrill und preislose Konsumgüter suchenden Töchter und Söhne der gehobenen Klassen beim Shoppen, ohne zu zahlen, und anderer Action dabei waren, ist noch nicht bekannt. Die Mehrheit bei den gewalttätigen Brandschatzungen dürften sie eher nicht stellen. Ebensowenig wie der Großteil der Angeklagten auf dem Gericht in London Highbury. Der stehe in Arbeit, so der Telegraph. Anwälte geben der Zeitung gegenüber allerdings zu bedenken, dass oft nur die Langsamsten und die Dümmsten von der Polizei erwischt wurden. Das spricht dafür, dass viele Gangmitglieder entwischten.

Die New York Times listet Berufsgruppen Angeklagter auf, die dort als Beispiele für die Diversität der Verhafteten genannt werden. Die Berufe stammen eher aus den unteren Lohngruppen:

But those who stood before the courts for bail hearings in London, many of them still in their jeans and hooded sweatshirts, included a graphic designer, a postal employee, a dental assistant, a teaching aide, a forklift driver and a youth worker.

Vorstrafen und Gangs

Aber, so eine andere große Linie, die beobachtet wurde: eine Menge der Angeklagten hatten bereits einen Eintrag im Vorstrafenregister habe, "career criminals", so der Telegraph.

Laut Guardian hat die Polizei während des zweiten und dritten Aufruhrtages festgestellt, dass Gangs bei Planung und Organisation der Plünderungen eine "zentrale Rolle" spielten:

Senior police have briefed MPs and political leaders, including Cameron, that well-known gang leaders were at the centre of the second and third day of the looting, even though the majority of rioters were not gang members.

Cameron hat ein scharf konturiertes Bild der Unruhen herausgeschnitten:

It is criminality pure and simple. And there is absolutely no excuse for it.

Das liefert ihm die Basis, um sich als Ordnungspolitiker in Reinkultur zu profilieren. Soziale Missstände, welche als Bedingungen für die gewalttätigen Ausschreitungen in die Diskussion gebracht wurden (etwa am Beispiel des historischen Zusammenhangs zwischen Unruhen und Sparmaßnahmen in Zeiten der Wirtschaftskrisen - Austerity and Anarchy) kümmern ihn erstmal nicht, das Thema wird vertagt. Jetzt müssen Taten folgen, schnell: "Restoring order". Bei aller Unterschiedlichkeit der Störer bleibe ja eines gleich, so Cameron in seiner Rede: "different people doing the same thing - basically looting - in different places all at the same time".

Der politische Druck an die Richter weitergegeben

Die Verantwortlichen für die Gewalt sollten sich darauf gefasst machen, dass sie ins Gefängnis kommen, fordert Cameron. Der politische Druck wurde an die Richter weitergegeben. Vor Gericht sieht dann die Realität wieder etwas komplizierter aus. Die Richter agieren zwar laut Medienberichten, wie gewünscht, schnell, selten von Milde gebremst, aber die Schnelljustiz zeigt eben auch, warum der Geist der Rechtsstaatlichkeit vor derlei zurückschreckt. Das Risiko, pauschal und unter dem Eindruck einer politischen Vorgabe zu handeln, ist gegeben, wie nicht nur das Beispiel eines "Lidl-Plünderers" zeigt, der Wasserflaschen mitgenommen hat und zu sechs Monaten Haft verurteilt wurde:

At Camberwell Green magistrates, Nicholas Robinson, 23, an electrical engineering student with no previous convictions, was jailed for the maximum permitted six months after pleading guilty to stealing bottles of water worth £3.50 from Lidl in Brixton. He had been walking back from his girlfriend's house in the early hours of Monday morning when he saw the store being looted, his lawyer said, and had taken the opportunity to go in and help himself to a case of water because he was thirsty. He was caught up in the moment, and was ashamed of his actions, his defence said.

Die Begründung der Staatsanwaltschaft in diesem Fall: "Der Angeklagte habe durch sein Verhalten an kriminellen Handlungen mitgewirkt und dadurch zu einer Atmosphäre von Chaos und purer Gesetzlosigkeit beigetragen."

Ein Einzelfall, dem der Guardian-Bericht noch weitere hinzufügt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Diese Fälle sollen nicht als Exempel zur Verharmlosung der Plündereien und Brandschatzungen und der Gangherrschaft in manchen Zonen britischer Städte herangezogen werden. Die Verwüstungen und die Reaktion von Betroffenen auf die Gewaltaktion sprechen deutlich dafür, dass die Härte des Gesetzes in solchen Fällen durchaus angebracht ist.

Law & Order und Erziehung

Die vom Guardian genannten Fälle der überzogenen Urteile im Schnellverfahren zeigen aber auch die nicht nur aus rechtsstaatlicher Sicht bedenklichen Schwächen der pauschalen Härte-Politik Camerons. Seine Rezeptur ist beschränkt, sie stammt aus dem großen Repertoire, das Innenminister aller Länder immer wieder herausholen, wenn es um die Aufrechterhaltung der Ordnung geht: Aufstockung der Polizeikräfte, Aufrüstung ihrer Mittel, die Erwägung der Möglichkeit, die Armee für die innere Sicherheit einzusetzen, erweiterte Gesetzgebung im Sinne von Law and Order.

Dass Cameron die Justiz für Schnellverfahren einspannt und auch davon spricht, dass er zusammen mit Geheimdiensten und der Industrie überprüfen will, ob man nicht Twitter, Facebook und andere soziale Mitteilungsplattformen begrenzt sperren könne, hat ihm den naheliegenden Vergleich mit Reaktionen nahöstlicher Gewaltherrscher eingebracht.

So we are working with the Police, the intelligence services and industry to look at whether it would be right to stop people communicating via these websites and services when we know they are plotting violence, disorder and criminality.

Das Vergleich mit arabischen Regimes ist, schaut man etwa nach Syrien, wenig differenziert und überzogen, auch wenn das Instrumentarium und die Kategorisierung der Unruhestifter als "Kriminelle" gewisse Parallelen aufweisen. Dazu maßt sich Cameron, darin arabischen Herrschern nicht unähnlich, eine Erzieherrolle an, die des Rechthabers, der auf einen autoritären Kurs setzt. Ob sein Maßnahmenkatalog für die Bekämpfung der tieferen Ursachen hilft?

We need more discipline in our schools.
We need action to deal with the most disruptive families.
And we need a criminal justice system that scores a clear, heavy line between right and wrong.
In short, all the action necessary to help mend our broken society.
At the heart of all the violence sits the issue of the street gangs. Territorial, hierarchical and incredibly violent, they are mostly composed of young boys, mainly from dysfunctional homes.
They earn money through crime, particularly drugs and are bound together by an imposed loyalty to an authoritarian gang leader.

Die ersten Punkte waren schon zentrale Bestandteile unter Labour, Stichwort "Härte und Respekt". Wird es mit mehr Härte besser? Bei der Bekämpfung der Gang-Kriminalität will Cameron nun von New York und Los Angeles lernen. Das zeigt immerhin in eine andere Richtung. Die Programme dort hatten mehr zu bieten als Schablonen aus dem autoritären und repressiven Repertoire. Fraglich bleibt, ob sie auf britische Verhältnisse zu übertragen sind.