Schüsse in der Nacht

Breakfast at Tiffany’s

Die Affäre Dominici

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Es gibt Mordfälle, die ein Land elektrisieren, die noch Jahrzehnte später für Gesprächsstoff und immer neue Theorien sorgen, mit denen andere Verbrechen zur Einordnung verglichen werden. Der berühmteste (und in gewisser Weise konkurrenzlose) ist der des Prostituiertenmörders vom Londoner East End. Der Fall, der Jack the Ripper in der französischen Kriminalgeschichte der letzten hundert Jahre am nächsten kommt, ist die "Affäre Dominici". Sie sorgte für Verstimmungen zwischen Großbritannien und Frankreich, weil die Opfer britische Staatsbürger waren, spülte mühsam Unterdrücktes aus der Zeit nach oben, als Frankreich von Nazi-Deutschland besetzt war, hat eine Vielzahl von Büchern und sogar eine Graphic Novel hervorgebracht und bescherte dem französischen Fernsehen noch fünfzig Jahre nach der Tat einen Straßenfeger, als eine neue Verschwörungstheorie präsentiert wurde.

Dabei ist das längst nicht alles. Sechzig Jahre nach dem Dreifachmord geschah wieder ein mysteriöses Verbrechen, bei dem in Südfrankreich eine britische Urlauberfamilie (mit irakischen Wurzeln) getötet wurde und das Erinnerungen an den Fall von 1952 wachrief als gäbe es einen unheimlichen Plan, uns alle zehn Jahre mit der Geschichte zu konfrontieren. Am 5. September 2012 wurden auf einem Parkplatz beim Dorf Chevaline in der Ferienregion Hochsavoyen die Leichen des Radfahrers Sylvain Mollier sowie - in einem BMW-Kombi - von Saad al-Hilli, seiner Frau Iqbal und seiner Schwiegermutter Suhaila Al-Alaaf entdeckt. Ein Stück vom Auto entfernt lag die schwer verletzte, beinahe totgeschlagene Zainab, die siebenjährige Tochter der al-Hillis. Die vierjährige Zeena wurde Stunden später, schwer traumatisiert und körperlich unversehrt, zwischen den Beinen eines der im BMW erschossenen Opfer gefunden, wo sie sich versteckt hatte.

Einige Details variieren. Trotzdem könnte das, wenn es nicht eine wahre Geschichte wäre, die neue Staffel der britischen TV-Serie Whitechapel sein, in der Mörder von heute berüchtigte Verbrechen der Vergangenheit wiederholen (in der ersten Staffel ist das Vorbild Jack the Ripper, in der zweiten sind es die Kray-Zwillinge). Der Fall von 1952 ist nur etwas weniger international. Die Opfer hießen Drummond, und ihr Auto, auch ein Kombi, war ein britisches Produkt der Marke Hillman. Der Schauplatz war ein zum Parken genutzter Randstreifen in der Nähe des Dorfes Lurs in den Basses-Alpes. Damals wie heute wurden Vorwürfe laut, dass am Anfang wertvolle Zeit vergeudet wurde, dass die Rivalität miteinander konkurrierender Polizeiorganisationen der Aufklärung des Verbrechens nicht dienlich war und dass mit Tunnelblick ermittelt wurde.

Wer die Berichte über das aktuelle Massaker verfolgt, gewinnt sogar den Eindruck, dass die Bluttat von 2012 zeitweise hinter der von 1952 zu verschwinden droht, weil sie zu stark von oft diffusen Erinnerungen an diese überlagert ist. Einen Monat lang ging man wie selbstverständlich davon aus, dass die Insassen des Autos mit dem britischen Kennzeichen die Ziele des Anschlags waren und der Radfahrer nur das Pech gehabt hatte, im falschen Moment am falschen Ort zu sein. Dann kam plötzlich das Gerücht auf (offenbar gespeist aus einer konkurrierenden Polizeiquelle), dass es umgekehrt gewesen sei: eigentlich sollte Sylvain Mollier getötet werden, und die Briten mussten sterben, weil sie zufällig Zeugen des Verbrechens geworden waren. In britischen Zeitungen forderten Angehörige der al-Hillis die Polizei auf, endlich in alle Richtungen zu ermitteln, statt das Motiv für die Morde in ihrer Familie zu suchen. Mittlerweile reichen die Theorien zum Fall von 2012 vom extra angereisten Profikiller bis zum amateurhaft agierenden Mörder aus der Gegend - ganz so wie beim Fall von 1952.

Nie wieder English Breakfast

Wie nähert man sich ihm also an, dem berühmtesten französischen Mordfall des 20. Jahrhunderts? Durch Einbettung in die Kulturgeschichte des Abendlands ("Schon die alten Römer …")? Mit Henry Mancinis "Moon River" und Audrey Hepburn, die frühmorgens, nach durchzechter Nacht, mit Kaffee und Gebäck vor dem Schaufenster von Tiffany & Co. steht? Über den Tatort, die Mörder oder die Polizei? Oder zur Abwechslung mal ganz anders, mit einer Anekdote aus der Kindheit des Autors? Das ginge so: Nach ein paar Jahren Englischunterricht war ich zum ersten Mal in London. Dort machte ich eine wichtige Erfahrung. Das meiste von dem, was man in der Schule lernt, kann man im echten Leben überhaupt nicht brauchen. In meinem Englischbuch hatte Jack nach dem Genuss von unreifen Pflaumen Bauchweh bekommen und sein Vater deshalb den Arzt gerufen. Das nützt einem rein gar nichts, wenn man einen Passanten nach dem Weg fragen oder ein Frühstück bestellen will. Peinliche Momente sind da vorprogrammiert.

Vielleicht lag es an meinem sprachlichen Unvermögen, vielleicht wurde ich ein Opfer britischer Vorurteile gegenüber deutschen Touristen und deren immer gleichen Wünschen, oder das Hotel, in dem ich als Pauschalreisender (muss man auch nicht haben) abgestiegen war, hatte tatsächlich nichts Bekömmlicheres im Angebot. Jedenfalls gelang es mir nicht, etwas anderes zu ordern als das "Traditional English Breakfast". Jeden Morgen dasselbe Martyrium. Speck, fetttriefende Würstchen und Cholesterinbomben überstehen, bevor man endlich den Tag beginnen kann (wenn man das dann noch kann). Von herrlich unreifen Pflaumen würde man nicht zu träumen wagen. Und nun stelle man sich folgende Situation vor: Jahre nach diesem traumatischen, nie vergessenen Erlebnis entdeckt man ein Buch mit dem Titel The Englishman’s Food, in der Erstausgabe fast 600 Seiten stark und schön illustriert, in dem steht, dass das typisch englische Frühstück bis weit ins 19. Jahrhundert hinein aus gesunder und leicht verdaulicher Kost bestand und das "Traditional English Breakfast" so traditionell nicht ist, sondern eine Erfindung geschäftstüchtiger Hoteliers, die den Engländern mit Hilfe der Werbung so lange einredeten, dass dieses fette, den Profit der Gastwirte steigernde Zeug ihr "traditionelles" Frühstück sei, bis sie es glaubten. Man ist demnach das Opfer einer dreisten Lüge geworden, und endlich wird das aufgedeckt. J. C. Drummond, der Autor von The Englishman’s Food, ist mein Held.

Hinter dem wunderbaren, heute noch sehr lesenswerten Buch verbirgt sich sogar eine Liebesgeschichte. Anne Wilbraham, die Co-Autorin, war Drummonds Assistentin am University College in London, als es die beiden verfassten (für das Gros des Inhalts war Jack zuständig, und Anne schrieb den Text, weil ihr Stil lebendiger, humorvoller und weniger akademisch war als der des Professors), und nicht nur das. Jack Drummonds erste Ehe mit Mabel, der Tochter eines Schullehrers, zerbrach daran, dass sich Jack in Anne verliebte. 1939, als das Buch erschien, ließ Jack sich scheiden. Man kann also sagen, dass The Englishman’s Food das Produkt einer Romanze ist. 1940 traten die beiden Autoren vor den Traualtar. Zwei Jahre danach brachte Anne ein Kind aus Fleisch und Blut zur Welt, Elizabeth.

The Englishman’s Food - A History of Five Centuries of English Diet ist das Ergebnis langjähriger Forschungsarbeiten. Geschildert wird, wie sich - nicht zuletzt unter dem Einfluss der Lebensmittelindustrie - die Essgewohnheiten verändert haben und welche Folgen das für Gesundheit und Wohlbefinden hatte. Dazu gibt es jede Menge Geschichten über falsche Ernährung wie die von Charles Townshend, einem britischen General während des Mesopotamien-Feldzugs. Nach der verlorenen Schlacht von Ctesiphon im November 1915 zog sich der General mit seinen Truppen in die Stadt Kut (150 Kilometer von Bagdad entfernt) zurück, wo er von der Armee des Osmanischen Reichs eingeschlossen wurde. Um der Belagerung trotzen zu können, rationierte Townshend die Lebensmittel. Im April 1916 kapitulierte er. Bei den Briten galt das als große Schande. Einige Militärhistoriker rätseln bis heute, warum der General die Fahne einholte, obwohl seine Truppen noch für mehrere Wochen zu essen gehabt hätten.

Drummond weiß die Antwort. Durch die Rationierung litten die Soldaten an schweren Mangelerscheinungen, was die Kampfkraft entscheidend schwächte. Das, meint Drummond, hätte sich verhindern lassen, wenn man die Ursachen erkannt und aus einem Flugzeug ein kleines Paket mit Vitamin B1 und C über der belagerten Stadt abgeworfen hätte: "Eine grausame Ironie liegt in der Tatsache, dass tatsächlich ein Flugzeug ein kleines Paket abwarf, um der Garnison die Lage zu erleichtern; es enthielt Opium zur Betäubung des Hungers." Passagen wie diese dürften den Ernährungsminister Lord Woolton davon überzeugt haben, dass Drummond der richtige Mann für ihn war. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden zwei Drittel der in Großbritannien verbrauchten Lebensmittel importiert. Am wichtigsten: Getreide aus den USA und Kanada. Auf die Transportschiffe machten nun deutsche U-Boote Jagd.

Im Januar 1940 wurden die Lebensmittel rationiert. Im Februar wurde Drummond zum Chefberater der Regierung in Ernährungsfragen ernannt. Seine Aufgabe: Mittel und Wege finden, wie die Nation die Seeblockade überstehen konnte. Drummond teilte die Lebensmittel nach den Nährstoffen ein, die sie enthalten. Was heute selbstverständlich erscheint war damals revolutionär. Drummond entwickelte einen Plan zur Verteilung der Lebensmittel nach ernährungswissenschaftlichen Prinzipien. Den Wohlhabenden im Land verordnete er eine Diät mit weniger Fleisch, Fett, Zucker und Eiern; die Armen erhielten mehr Proteine und Vitamine als vorher in Friedenszeiten. Als begleitende Maßnahme wurde eine PR-Kampagne für gesunde Ernährung gestartet. Eine tägliche Radiosendung der BBC gab Tipps, worauf man beim Essen zu achten hatte und wie sich das, was Drummond auf den Speiseplan gesetzt hatte, am besten zubereiten ließ. Propagiert wurden Lebensmittel ohne Zusatzstoffe. Unter dem Slogan "Dig for Victory" versuchte das Landwirtschaftsministerium (mit beachtlichem Erfolg), die Bürger dazu zu bringen, ihr eigenes Gemüse anzubauen.

Ein Grab für den Ehrendoktor

Die Briten wurden zum Kochen animiert, und weil viele der in Fabriken oder beim Ernteeinsatz arbeitenden Mütter dafür keine Zeit hatten, wurde erstmals in der Geschichte Großbritanniens eine landesweite Schulspeisung eingeführt. Nach dem Krieg war ein kleines Wunder zu verzeichnen. Wissenschaftlichen Studien zufolge waren die Briten trotz oder gerade wegen der Rationierung der Lebensmittel insgesamt besser ernährt, waren deutlich weniger Mangelerscheinungen zu registrieren als in den 1930ern. Das lag daran, dass Drummond für eine bewusstere und ausgewogenere Ernährung gesorgt und diese in wichtigen Bereichen umgestellt hatte. Wenn Großbritannien den von ihm gewiesenen Weg weiter gegangen wäre, gäbe es heute weniger Junk Food und weniger dicke Kinder, und Jamie Oliver wäre arbeitslos. Drummonds Aktivitäten beschränkten sich nicht auf seine Heimat. 1945 sahen sich die Alliierten in den KZs der Nazis mit Häftlingen konfrontiert, die überlebt hatten und doch dem Tod geweiht waren, weil sie keine Nahrung mehr verdauen konnten. Drummond fuhr nach Bergen-Belsen und entwickelte einen nährstoffreichen, für diese Menschen essbaren Brei. Das Rezept wurde in das Handbuch für KZ-Befreier aufgenommen.

Für seine Verdienste erhielt Jack Drummond zahlreiche Auszeichnungen. Er wurde zum Ritter geschlagen, die New York Academy of Sciences ernannte ihn zum Ehrenmitglied, er bekam einen Preis der American Public Health Association und die Ehrendoktorwürde der Universität Paris. Die Holländer verliehen ihm einen Orden. Drummond gehörte zu einer Gruppe von Ärzten und Wissenschaftlern, die nach dem Hungerwinter von 1944/45 in geheimer Mission in die noch von den Deutschen besetzten Niederlande reisten (ca. 30.000 Menschen waren dort schon verhungert), um sich ein Bild von der Lage zu machen. Nachdem die Deutschen in einer Art Gentleman’s Agreement einige Flugkorridore freigegeben hatten, konnte die "Operation Manna" beginnen, bei der britische Bomber in einer Woche 7000 Tonnen Lebensmittel abwarfen. Von Drummond kamen die Informationen, was wo am dringendsten gebraucht wurde. Eine der Ausgehungerten war eine Sechzehnjährige, die damals (zur Verschleierung ihrer britischen Herkunft) unter dem Namen Edda Van Heemstra in Arnhem lebte. Ohne Drummond, meint James Fergusson, der ein schönes Buch über ihn geschrieben hat (The Vitamin Murders), hätte es vielleicht nie den Film Breakfast at Tiffany’s gegeben - oder jedenfalls nicht mit "Edda", die als Audrey Hepburn Karriere machte.

Heute kommt Drummond meistens nur noch als eines der Opfer in einem Mordfall vor, der das Département Alpes-de-Haute-Provence in die Medien brachte und als die "Affäre Dominici" in die französische Kriminalgeschichte einging. Es gibt Lexika, in denen man unter seinem Namen lediglich einen Verweis auf Gaston Dominici findet. Das ist der Bauer, der als sein Mörder verurteilt wurde. Mit Sir Jack starben seine Frau Anne und seine Tochter Elizabeth. Wer sich mal in der Gegend aufhält, sich für gesunde Ernährung interessiert oder ein Fan von Audrey Hepburn ist, kann ihre Gräber besuchen. Der Friedhof des Ortes Forcalquier ist nicht wirklich ein Labyrinth, wie in Reiseführern behauptet, wegen seiner terrassenförmigen Anordnung aber durchaus sehenswert.

Forcalquier. Bild: Forcalquier. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Als ich dort war, war der Name Drummond bei allen drei Opfern falsch geschrieben (mit einem m). Das scheint noch immer so zu sein. Wenn man den Gerüchten glaubt, wurden die Leichen erst beigesetzt und dann bei Nacht und Nebel wieder ausgegraben. Das veranlassten entweder die Angehörigen, weil sie nicht wollten, dass die Toten in dem Land die letzte Ruhe fanden, wo man sie ermordet hatte. Oder es waren die Geheimdienste, die Spuren verwischen wollten: der französische DST, die CIA, der MI6, der KGB oder alle miteinander. Nur Gunther von Hagens, der Erfinder der Plastination, geriet bisher nicht in Verdacht, weil er erst sieben Jahre alt war, als die Drummonds starben. Das kann aber noch kommen.

Das Haus, in dem der mutmaßliche Mörder wohnte, steht noch. Der Möbeltischler, der es den Dominicis abkaufte, wollte eine Tankstelle daraus machen, hatte aber wenig Glück mit seinen Plänen. Eine Pizzeria musste wieder schließen, und auch einem Campingplatz war kein Erfolg beschieden, weil es nicht genug Besitzer von Zelten und Wohnwägen gab, die diese makabre Idee zu schätzen wussten. In den 1990ern verfiel das Gebäude, bis der Dominici-Tourismus im neuen Jahrtausend durch die Ausstrahlung des Fernsehfilms wieder Fahrt aufnahm. Der ehemalige Bauernhof wurde renoviert. Dann konnte man dort eine Ferienwohnung mieten und vom Hof des mutmaßlichen Mörders zu Fuß zu einem mehr oder weniger geschmackvollen Schrein für eines der Opfer gehen, die kleine Elizabeth. Auch das war scheinbar nicht die beste aller Geschäftsideen. Wenn ich richtig informiert bin, wird das Haus heute privat genutzt.

Mord mit Jahrmarktsatmosphäre

Am Morgen des 5. August 1952, gegen 6 Uhr früh, war Jean-Marie Olivier auf der durch das Flusstal der Durance führenden Route Nationale Nr. 96 unterwegs, als er nicht weit vom sich heute als "Balkon zur Durance" vermarktenden Örtchen Lurs, unterhalb der sehr malerisch auf einem Plateau gelegenen Abtei von Ganagobie, von Gustave Dominici angehalten wurde. Gustave sagte etwas von einer Leiche, die er gefunden habe und bat Olivier, die Polizei zu alarmieren. Der Gendarm Louis Romanet dachte noch an einen Unfall, als er zwischen 7 Uhr und 7.30 Uhr am Tatort eintraf (vermutlich war es eher halb 8 als 7). Aber es gab nicht eine Leiche, sondern drei. Auf dem Randstreifen der Straße, unter einem Maulbeerbaum und gegenüber dem Kilometerstein 32, war ein Auto der Marke Hillman geparkt. Neben dem Wagen mit britischem Kennzeichen lag unter einer Decke eine tote Frau. Sie trug ein rot-weißes Kleid mit Blumenmuster und weder Schuhe noch Strümpfe. Auf der anderen Straßenseite, beim Kilometerstein, lag ein toter Mann im Gras. Er trug eine Lederjacke, eine hellblaue Pyjamahose, graue Socken und nicht geschlossene Sandalen. Der Körper war mit einem Feldbett bedeckt. Die Frau und der Mann waren erschossen worden.

Lurs. Bild: Rainbow0413. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Parallel zur RN 96 verläuft eine Eisenbahnlinie, die Verbindungsstrecke von Digne nach Marseille. Zwischen der Straße und den Schienen lag ein Feld, das den Dominicis gehörte. Direkt neben der Straße, in Sichtweite des knapp 80 Meter von ihm entfernten Hillman, stand La Grand’Terre ("Die Große Erde"), der Bauernhof der Dominicis. Von da, wo das Auto geparkt war, führt ein Weg zu einer Brücke über die Eisenbahn und weiter zur Durance. Auf der anderen Seite der Schienen, 77 Meter vom Hillman entfernt, wurde ein kleines Mädchen gefunden. Es hatte einen hellblauen Schlafanzug an und war barfuss. Der oder die Täter hatten ihm den Schädel zertrümmert. Um 8.30 Uhr erschien Dr. Henri Dragon am Tatort, um die Leichen zu untersuchen. Er war noch bei der Arbeit, als ein alter, auf einen Stock gestützter Mann mit weißem Schnurrbart kam, um sich anzuschauen, was gleich neben seinem Land passiert war. Das war Gaston (76), der Patriarch des Dominici-Clans. Das Bauernhaus bewohnte er zusammen mit seiner Frau Marie (71) sowie seinem Sohn Gustave (32), dessen Frau Yvette (20) und dem zehn Monate alten Alain. Gaston und Marie hatten neun Kinder. Alain war eines ihrer 19 Enkelkinder.

Gaston betrachtete die Leichen und empfahl, etwas gegen die Fliegen im Gesicht des kleinen Mädchens zu tun. Ein Gendarm gab ihm eine Decke. Der Tatort wurde nicht abgesperrt. Überall trampelten Schaulustige herum. Mehr und mehr Reporter tauchten auf. Einige von ihnen behaupteten später, dass sie und nicht die Polizei die Toten identifiziert hätten. Die Opfer waren Sir Jack Drummond (61), seine Frau Anne (47) und die gemeinsame Tochter Elizabeth (10). Die Journalisten hatten das beim Durchsuchen des Hillman herausgefunden. Im Inneren des Wagens herrschte ein heilloses Durcheinander. Um einen Raubmord schien es sich nicht zu handeln. Ob aber auch der oder die Täter in dem Auto herumgekramt hatten, und ob außer einem Photoapparat noch mehr verschwunden war, ließ sich nicht mehr feststellen.

Kurz nach 9 Uhr morgens wurde Kommissar Edmond Sébeille (45) von der Sûreté Nationale mit den Ermittlungen beauftragt. Sébeille schien der geeignete Mann zu sein, weil er eine gute Aufklärungsquote hatte und den provenzalischen Dialekt verstand. Allerdings hatte er sein Büro in Marseille. Eigentlich waren die Kollegen in Nizza zuständig. Aber wegen der Urlaubszeit war dort kein Kommissar frei. Auch das Revier in Marseille war stark unterbesetzt. Darum dauerte es eine Weile, bis Sébeille die vier Mann zusammen hatte, die er für sein Team brauchte. Dann musste der Dienstwagen aufgetankt werden. Laut Vorschrift hatte das an einer ganz bestimmten Vertragstankstelle zu geschehen. Darum mussten die Beamten einmal quer durch die Stadt, bis sich der Citroën um 12.15 Uhr endlich in Richtung Basses-Alpes in Bewegung setzen konnte. Nach halsbrecherischer Fahrt erreichten sie gegen 13.30 Uhr den Tatort. Die ersten 24 Stunden nach dem Mord, so eine alte Weisheit, sind für die Ermittlungen entscheidend. Davon war die Hälfte schon vorbei, als sich Kommissar Sébeille dem jungen, noch sehr unerfahrenen Untersuchungsrichter Roger Périès und dem Staatsanwalt Louis Sabatier vorstellte, die ungeduldig auf ihn warteten.

Auch der Gendarmerieoffizier Henri Albert war längst da. Er und seine Leute hatten sich umgeschaut und erste Beweise gesichert, sich insgesamt aber sehr zurückgehalten, um dem Kommissar nicht vorzugreifen. So stand es in der Dienstvorschrift. Für viele Gendarmen waren die Kriminaler eitle Besserwisser (manchmal soll das auch heute noch so sein). Es ist daher nicht auszuschließen, dass Albert lieber zu wenig als zu viel tat, um keinen Streit zu provozieren, um so seine Meinung über bestehende Kompetenzzuweisungen auszudrücken oder um sich die Journalisten gewogen zu machen. Am Tatort herrschte eine Jahrmarktsatmosphäre. Verwandte und Bekannte der Dominicis ließen sich vom alten Gaston erzählen, was geschehen war. Amateurdetektive konnten weitgehend unbehindert nach Spuren suchen. Besonders viel Freude an dem Spektakel schien der 16-jährige Roger Perrin zu haben, ein Enkel von Gaston (in L’Affaire Dominici von 1973 wird er vom jungen Gérard Depardieu gespielt). Die Gendarmen forderten ihn schließlich auf, sich nützlich zu machen, statt sie blöde anzuglotzen. Roger half beim Vermessen des Tatorts, was seinen Großvater in Rage brachte.

L’Affaire Dominici (1973)

Der Wutausbruch des Alten kam völlig unerwartet. Später wurde das zum ersten Glied einer Indizienkette, die belegen sollte, dass es unter der scheinbar ruhigen Oberfläche brodelte, dass sich hinter der stoisch wirkenden Fassade ein Familientyrann verbarg, der keinen Widerspruch duldete und sehr aufbrausend, ja sogar gewalttätig war, wenn jemand etwas gegen seinen Willen tat. Das kann so gewesen sein oder auch nicht. Fest steht, dass Polizei und Staatsanwaltschaft ein Interesse an einem leicht in Wut zu bringenden Dominici haben mussten. Denn ein Tatmotiv war schwer zu finden. Jean Giono, der in Frankreich sehr bekannte Dichter der Haute Provence, wohnte nicht allzu weit von Lurs entfernt, das er oft besuchte. 1947 hatte er eines seiner Hauptwerke veröffentlicht, Un roi sans divertissement, mit dessen Titelhelden der alte Dominici dann gelegentlich verglichen wurde. 1954 war er als Prozessbeobachter dabei, und im Jahr darauf erschienen seine Notes sur l'affaire Dominici. Dort schreibt er etwas ratlos, dass die Staatsanwaltschaft nur einen Beleg für die mörderische Wut des Angeklagten beibrachte: einmal hatte man gesehen, wie er sich über seinen Hund ärgerte und diesen schlug.

Der Maigret von Marseille ermittelt

Kommissar Sébeille musste einen Mann verscheuchen, der seelenruhig Photos von den Leichen machte und die Schaulustigen zurückdrängen, ehe er den Tatort besichtigen konnte. Wäre alles anders gekommen, wenn er früher eingetroffen wäre? Nicht unbedingt. Sébeille war ein starker Raucher, sein Markenzeichen eine Zigarettenspitze. Journalisten erinnerte sie an die Pfeife von Georges Simenons Maigret. So wurde aus Sébeille der "Maigret von Marseille", was dem Kommissar gut gefiel. Bei den "psychologischen Ermittlungen", die er nun anstellte, waren greifbare Beweise nicht ganz so wichtig. Der Kommissar ging eher intuitiv vor. Die allzu kleinliche Sicherung von Beweisen war seine Sache nicht, obwohl er eine "Detailoffensive" ankündigte, nachdem sein erster Ansatz gescheitert war. An der hinteren Stoßstange des Hillman beispielsweise wurde ein Stück Fleisch gefunden, das zu einer Verletzung an Jack Drummonds Hand zu passen schien und bald danach verschwunden war. Sébeille gab den beiden Ärzten die Schuld, die die Obduktion vorgenommen hatten. Als er 1970 ein eigenes Buch zum Fall veröffentlichte (L’Affaire Dominici. La vérité sur le crime de Lurs) erwähnte er eher beiläufig, dass er das Beweisstück als Souvenir abgezweigt und dann lange Zeit in einer Streichholzschachtel mit sich herumgetragen hatte.

Die Gendarmen hatten beim Auto der Drummonds zwei nicht abgefeuerte Gewehrpatronen und zwei leere Hülsen entdeckt, die aussahen, als würden sie zu einem Militärgewehr gehören. Sébeille folgerte daraus, dass der Schütze eine automatische Waffe verwendet, dabei aber nach jedem Schuss versehentlich eine Patrone herausrepetiert hatte, weil er an das Gewehr nicht gewöhnt war. Die Mehrheit der Experten geht davon aus, dass insgesamt sieben Schüsse fielen. Drei trafen Sir Jack, drei Lady Anne, die siebte Kugel schlug in den Rand der Brüstung der Eisenbahnbrücke ein, wo es eine frische Einkerbung im Stein gab. Jenseits der Brücke, bei der toten Elizabeth, wurde ein poliertes Stück Holz gefunden, das von einem Gewehrkolben abgesplittert war. Sébeilles Theorie nach hatte der Mörder die Eltern des Mädchens getötet und einen Schuss auf die fliehende Elizabeth abgegeben. Danach hatte sich wegen der unsachgemäßen Handhabung des automatischen Gewehrs eine Patrone verklemmt, und deshalb hatte der Mörder Elizabeth mit dem Kolben erschlagen.

In der Durance hatte sich ein totes Schaf im Treibholz verfangen. Einer von Sébeilles Beamten entdeckte einen Gewehrschaft, der dort im Wasser trieb. Etwa zehn Meter flussaufwärts lag der zugehörige Gewehrlauf im Schlamm, mit einem Stück vom Schaft. Wenn der Täter nach dem Mord an Elizabeth direkt zur Durance gegangen wäre, um die Waffe dort zu entsorgen, wäre er genau an diese Stelle gekommen. So musste es demnach gewesen sein. Der gefundene Splitter passte zum Kolben des Gewehrs. Die beiden nicht abgefeuerten Patronen wiesen Kratzer auf, mit deren Hilfe sich belegen ließ, dass sie in der Waffe gewesen waren. Der Abgleich der zwei Hülsen und des Gewehrlaufs ergab, dass die zugehörigen Patronen mit diesem Gewehr abgefeuert worden waren. Allerdings wurde keines der tödlichen Projektile sichergestellt, und vermutlich wurde auch nicht sehr intensiv danach gesucht, weil die Sache ohnehin klar zu sein schien. So konnte es keine ballistische Untersuchung geben, die eindeutig geklärt hätte, ob Jack und Anne Drummond wirklich mit diesem Gewehr getötet wurden, und nur mit diesem. Wer bei der Beweissicherung schlampt darf sich nicht wundern, wenn früher oder später ein Verschwörungstheoretiker kommt und sagt, dass es eine zweite Tatwaffe gab.

Die Waffe aus der Durance war ein halbautomatischer, im Krieg von der US-Armee verwendeter M1-Karabiner des amerikanischen Herstellers Rock-Ola (besser bekannt als Jukebox-Fabrikant) und vermutlich in zwei Teile gebrochen, als der Mörder Elizabeth erschlug. Das Magazin war leer, alles andere schien Sébeilles Theorie zu bestätigen. Der Karabiner befand sich in einem schlechten Zustand. Jemand hatte provisorisch den Lauf mit einem Draht und einem Aluminiumring am Schaft befestigt. Das verbesserte die Chancen, den Besitzer ausfindig zu machen. Sébeille sagte Sprüche auf, die man aus Krimis kennt: Die Waffe wird uns die Wahrheit erzählen oder uns zum Täter führen und dergleichen. Etwa 6000 dieser von Rock-Ola in Chicago hergestellten M1-Karabiner wurden an Infanteristen der US-Armee ausgegeben, die im Zweiten Weltkrieg in Südfrankreich zum Einsatz kamen. Es wurde nie richtig versucht, die Spur zu dem GI zurückzuverfolgen, der das Gewehr nach Europa gebracht hatte. Sébeille hielt es wohl nicht für erforderlich. Ihm war wichtig, wer den Karabiner zuletzt besessen und nicht, welcher Amerikaner ihn einst mitgebracht hatte. Das war irgendwie logisch - und wieder schlampige Polizeiarbeit.

Nachdem Sébeille sich aus solchen Puzzleteilen wie dem Karabiner eine Geschichte zusammengesetzt hatte, scheint ihn nicht weiter interessiert zu haben, ob es auch noch ein ganz anderes Puzzle geben könnte, in das sich die Teile einfügen ließen. Der Kommissar hatte sehr schnell eine Theorie und suchte sich dann die entsprechenden Indizien. Das bedeutet nicht unbedingt, dass seine Theorie falsch war. Aber eigentlich sollten die Indizien zur Theorie führen, nicht umgekehrt. Später wurde ihm angekreidet, dass er von Anfang an auf die Dominicis fixiert gewesen sei. Andere behaupteten genau das Gegenteil und warfen ihm vor, schwere Fehler gemacht zu haben, weil er sich die Dominicis anfangs nicht als Täter vorstellen konnte oder wollte.

Einer von Sébeilles Männern sah am 5. August im Hof der Grand’Terre eine nasse, zum Trocknen aufgehängte Hose, die danach Dutzende von Autoren beschäftigen sollte. Vermutlich gehörte sie dem alten Gaston (oder doch Gustave?), der freundlicherweise die Information beisteuerte, dass seine Kleider grundsätzlich von einer seiner Töchter gewaschen wurden, die sie ihm getrocknet und gebügelt zurückbrachte. Der Inspektor informierte den Kommissar. Sébeille beschloss, dass die Hose nicht wichtig war. So wird man nie erfahren, ob diese Cordhose außerplanmäßig gewaschen wurde, weil sie in der Mordnacht Blutspritzer abgekriegt hatte. Es gibt nur eine Aussage des Inspektors, der auf den ersten Blick kein Blut erkennen konnte.

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