Schwarte für Reichskriegsflaggenzombies

Die Freigabe von "Mein Kampf" als Akt gelebter Aufklärung?

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Pünktlich zu seinem Geburtstag hat Rafael Seligmann dem Führer ein Geschenk gemacht: Zeitgleich in "Bild" und "taz" forderte er neuerliche Aufmerksamkeit für das dichterische Hauptwerk des braunen Giftzwergs. Aber seine bildungsbürgerlichen Schwachheiten belegen das Gegenteil von dem, was sie behaupten. Es ist an der Zeit, Argumente dafür zu sammeln, dass die Schwarte über das Jahr 2015 hinaus undruckbar bleibt.

Vergessen wir einmal für den Moment die auffällige Tatsache, dass Seligmann seinen Sermon gleichzeitig in der Bild und der taz veröffentlicht hat, beileibe nicht der erste Hinweis auf die Konvergenz der beiden Zeitungen (vgl. Im Seichten kann man nicht ertrinken).

Vergessen wir, dass diese verdienten Organe sich in bewährt ekelhafter Manier einen Alibijuden an Bord geholt haben, um den Deutschen von TÜV-geprüfter Warte aus zurufen zu lassen, was sie eigentlich den lieben langen Tag gerne hören würden - dass nämlich jetzt endlich alles gut ist mit dem Holocaust, den Juden und diesen ganzen Angelegenheiten von früher da. Vergessen wir, wie wohl sich Seligmann mit dieser Rolle zu fühlen scheint.

Wenn wir all das vergessen, dann bleibt immer noch der Text als solcher. "Der Text", weil beide Texte, obwohl je auf ein Publikum mit und auf eines ohne Abitur zugeschnitten, das Gleiche behaupten: Hitler lesen sei wichtig, weil man ihn und sein politisches Programm ohne die Lektüre von Mein Kampf gar nicht verstehen könne, die Freigabe des Textes zum Druck wäre demzufolge ein Akt gelebter Aufklärung.

Nun ist es ja ohnehin ein populäres Vorurteil, dass man die Werke jedes Autors unbedingt genau studiert haben muss, um ihn zu verstehen. Was Hitler angeht, ist diese Idee nur absurd. Er hat seine schriftstellerische Karriere auf eine Weise politisch begleitet, die an seinen Intentionen, an seinem "politischen Programm" nicht den geringsten Zweifel lassen. Aber im Jahre 2004 will Seligmann dem Publikum verkaufen, man müsse "Mein Kampf" lesen, weil es über Hitlers Antisemitismus aufklärt.

Damit nicht genug der Enthüllungen. Die Lektüre des zeitgeschichtlichen Werks, meint Seligmann, erhelle auch, dass Hitler schon frühzeitig einen Krieg geplant habe, während in seinen Reden zu Beginn des dritten Reichs doch immer von Frieden die Rede gewesen sei. Auch das ist unerhört und vollkommen neu, vor allem für Herrn Seligmann aus Lalaland, dem unfassbar ist, dass die Deutschen seinerzeit Hitler wollten, weil er ihnen in Körpersprache und Lautstärke die kriegerische Rache versprach, die der wörtliche Text seiner Reden zunächst noch aufschob.

Laut Seligmann folgten die Deutschen Hitler 1939 in einen Krieg, den sie nie gewollt hatten. Hätten sie nur "Mein Kampf" gelesen, wären sie vor dem Kommenden gewarnt worden und hätten sich auf die Vernunft besonnen, die, der Zustand der heutigen deutschen Demokratie belegt es, eigentlich ihr Wesen ist. Wenn die Deutschen nur von den wahren Absichten ihres Führers gewusst hätten, alles wäre gut geworden. Hat Seligmann mit Expertenwissen dieser Art sein aktuelles Buch über Hitler gefüllt, für das die beiden Artikel offenbar werben sollen? Man muss es befürchten.

Wenn man das Gerede aber einmal ernst nimmt, so ernst, wie es der Autor selbst zu nehmen scheint, dann taugt es zwar immer noch nichts, bietet aber wenigstens die Möglichkeit für ein paar Einwürfe.

Einen guten Grund dafür, dass "Mein Kampf" nicht "freigegeben" werden muss, wie Seligmann meint, liefert er selbst: Das Gesabbel des Führers ist jederzeit verfügbar, im Internet, in Antiquariaten, Ausschnitte sind völlig legal als CD zu haben, gesprochen von Helmut Qualtinger, kommentierte Druckausgaben ebenso.

Nein, das Zeug ist nicht "verboten"; es kann aktuell hauptsächlich deswegen nicht in Deutschland unverändert nachgedruckt und verkauft werden, weil der Freistaat Bayern die Rechte daran hält, und zwar bis 2015, wenn es gemeinfrei wird.

Es gibt allerdings sehr gute Gründe dafür, die unveränderte Buchveröffentlichung von "Mein Kampf" in Deutschland dauerhaft zu verhindern. Wie alle guten Bildungsbürger überschätzt Seligmann die Kraft einer zahnlosen Aufklärung, die sich ausschließlich aufs Debattieren verlässt - und gleichzeitig unterschätzt er die Kraft von Symbolen. Gegen diejenigen, die einen Rache-, Rassen- und Superioritätswahn nötig haben, wie er sich in "Mein Kampf" niederschlägt, helfen keine Argumente - und diese Leute sind zahlreicher als die offensichtlichen Zombies, die am Wochenende regelmäßig mit Reichskriegsflaggen herumwedeln.

Der besagte Wahn interessiert sich nicht für Argumente, sondern für Symbole. Für die Symbolkraft von "Mein Kampf" aber in gedruckter Form ist nicht entscheidend, was genau darin steht, sondern nur, dass es als Buch, als Symbol der Wahrheit auftritt. Die allgemeine Haltung hingegen, die in dem Text zum Ausdruck kommt, ist für bestimmte Menschen nicht attraktiv, obwohl sie zu millionenfachem Mord geführt hat, sondern gerade deswegen.

Seligmann übersieht komplett die fortwährende Destruktivität bestimmter sozialpsychologischer Konstellationen. Dazu gehört auch die Tatsache, dass sich die militanten Reichskriegsflaggenzombies und ihre "stille Reserve" stets als die wahren, ordentlichen Deutschen sehen, und die offiziell erlaubte Drucklegung von "Mein Kampf" in dieser Hinsicht als ähnlich stimulierend empfinden würden wie den polizeilichen Geleitschutz, der ihre Aufzüge Wochenende für Wochenende durch die Fußgängerzonen der Republik begleitet.

Nazigegner, Ausländer, Juden in Deutschland können nichts weniger gebrauchen als Maßnahmen, die dem Neofaschismus in Deutschland als Erlaubnis und Ermutigung vorkommen müssen. Der ganze Sinn der Restriktionen, mit denen in Deutschland die Verwendung nationalsozialistischer Symbole eingeschränkt wird, liegt darin, ihnen die offizielle Erlaubnis und Anerkennung zu verweigern, die die Nazis schon immer für sie und für sich selbst reklamiert haben - weswegen sie auch gegen diese Restriktionen schon immer Sturm gelaufen sind.

Mit einiger Sicherheit kann gesagt werden, dass eine freie Verfügbarkeit von "Mein Kampf" als Buch - ebenso wie eine erlaubte Verwendung des Hakenkreuzes - Menschenleben kosten würde. Da die Liebhaber dieser Symbole schon für den Verlust von genug Menschenleben gesorgt haben, ist es vernünftig, gerade in Deutschland beides bis zum Sankt-Nimmerleinstag unter Verschluss zu halten.

Es ist möglich, dass Rafael Seligmann nicht versteht, warum "Mein Kampf" die Ehre verweigert werden sollte, ein Buch zu sein. Aber man muss ihm in dieser Ahnungslosigkeit ja nicht folgen.