Schwedische dot.com-Blüten

Aufstieg und Niedergang von boo.com und Co.

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In Schweden war der dot.com-Boom besonders stark. Dasselbe war auch beim Niedergang der Fall. Die Geschichte der erfolgreichen, wenn auch kurzlebigen Generation der Webdurchstarter aus dem Norden Europas hat auch Eingang in einige Bücher gefunden.

In der Gegend von Stureplan, dem Bankenviertel Stockholms, stiegen am Ende der Neunziger die Büromieten auf astronomische Höhen. Die sogenannten "Finanzwelpen" (ein Ausdruck, der vom ehemaligem Gewerkschaftschef Stig Malm gemünzt wurde), Technofreaks und Glückssucher starteten in der Umgebung eine Flora von Webunternehmen; zum Teil wurden sie auch in den Neuen Markt Schwedens eingeführt.

In der südschwedischen Universitätsstadt Lund konterte der Student Jonas Birgerson mit der Gründung der Firma Framfab. Er wurde bald der führende IT-Guru, den alle, sogar Regierungsmitglieder, als jugendliches Zukunftsorakel anbeteten. Die Dividenden Framfabs stiegen dementsprechend (mittlerweile ist der Kurswert auf eine knappe Krone gefallen). Birgerson, ein exzentrischer Individualist, trat im Fernsehen und auf Konferenzen stets in einem blaugelben Fleecepulli auf. Er behielt seine bescheidene Studentenbude als Wohnsitz.

Mit weit eleganterem Lifestyle umgaben sich jedoch die vielen "Webwelpen" der Hauptstadt, was Thema des gerade erschienenen Romans "Morfin" von Tomas Jacobsson (Jahrgang 1971) ist. Der ehemalige Mitarbeiter von Spray, eine der vielversprechenden Webfirmen im noblen Stadtteil Östermalm, beschreibt darin das Dolce Vita der jungen Webplutokraten des nordischen Venedigs. Jacobsson schildert, wie der autobiografischen Hauptfigur und seiner Frau der Einkaufsbummel in den Stockholmer Boutiquen von Prada, Louis Vuitton, Gucci und Room zur wöchentlichen Routine wurde. Der Roman endet katastrophal mit dem Tod der Frau in einem Luxusauto in der Saharawüste, weit weg vom digitalen Geltungsbereich und gleichzeitig mit dem gänzlich unerwarteten dot.com-Tod.

Während dieser Doku-Roman, mit zahlreichen Marken-Namedroppings à la "99 Francs" bestückt, größtenteils in der schwedischen Metropole spielt, bewegten sich das Studentenpaar Ernst Malmsten und Kajsa Leander meist auf der globalen Bühne. In Lund begannen sie glamouröse Poesiefestivals zu organisieren, die einiges kosteten (zuviel). Sie wiederholten diese Idee selbst in New York, wobei namhafte Poeten vom Flugplatz zu teuren Manhattanhotels in Limousinen befördert wurden. Dafür ernteten sie allerdings eine Kulturmedaille von der UNO. In Lund gründeten sie die Internetbuchhandlung Bokus, die später von Bertelsmann aufgekauft wurde.

Aber sie hatten größere Pläne. Auf internationaler Ebene starteten sie im November 1999 boo.com als E-Shopping-Website für Weltmarken wie Benetton, North Face und New Balance. Die Website sollte den kosmopolitischen Modetrend wiederspiegeln und ein digitales Einkaufszentrum für den zeitknappen Jet Set sein. Mit großem Geschick, bei dem vermutlich ihr jugendliches Elan und das Unwissen betagter Multikapitalisten über die digitale Zukunftswelt mitspielten, hatten sie angesehene globale Bekleidungs- und Schuhfirmen zur Mitarbeit überreden können. Als Investoren gelang es Leander und Malmsten, solche Giganten wie J. P. Morgan, Goldman Sachs und arabische Geldmagnaten, die ihr Geld loswerden wollten, anzulocken, was ihnen 135 Millionen Dollar einbrachte. Diese Anfangserfolge nach dem Motto survival of the fastest (oder nach dem schwedischen Spruch: "Die Bärenhaut verkaufen, ehe der Bär erschossen ist."), erlaubten dem Paar einen überschwänglichen Lebensstil mit Privatjets, Sektparties und Superluxushotels.

Schon im Mai 2000 geriet aber boo.com in eine beschämende Pleite. Der triviale Grund war vermutlich die komplizierten Bestellungsroutinen ihrer Homepage - einige der ersten User lamentierten über Wartezeiten bis zu 80 Minuten. Aber auch die Finanzen von boo.com befanden sich in einem unvorstellbaren Chaos.

Dieses dot.com-Abenteuer ist in zwei sehr unterschiedlichen Versionen in Buchform geschildert worden. Im letzten Oktober kam der Muckraker-Journalist Gunnar Lindstedt mit einem äußerst kritischen, aber spröden Buch auf den Markt. Lindstedt ist von Patrik Hedelin, einem dritten Miteigentümer von boo.com, mit dem sich Leander und Malmsten verkracht hatten, allzu abhängig, was die Informationen betrifft. Ernst Malmsten hingegen fand einen amerikanischen Ghostwriter, Erik Portanger vom Wall Street Journal, und publizierte mit seiner Hilfe eine englischsprachige Gegenversion, "boo.hoo, a dot.com story from concept to catastrophe" bei Random House. Auch wenn es bislang nur einen bescheidenen Verkaufserfolg gehabt hat, scheint sich nun auch die amerikanische Filmindustrie für die boo.com-Story zu interessieren. Warum auch nicht? Die Saga kann man wohl als eine moderne und globale Version der legendären Köpenickiade bezeichnen.