Schwierigkeiten mit der Online-Welt

Auf dem neunten "Trendtag" in Hamburg versammelte sich die Elite der Werbetreibenden, um über Billigangebote, Konsumfrust, positionale Waren und "Kontingenz" zu debattieren

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Glaubt man den Stimmen in der Werbewelt, befinden wir uns im reinsten Überfluss. Nachdem alle Grundbedürfnisse gründlich befriedigt worden sind und das Unbewusste sich seiner geheimen Wünsche überführt hat, leben die Konsumenten in völliger Optionalität. Niemand benötigt mehr profane Dinge wie Kühlschränke und Computer. Die Aufwertung des Selbst durch ausgestellten Luxus hat ebenfalls ausgedient. Jetzt geht es schlichtweg darum, jemand anderer zu sein. "Man wünscht sich andere Wünsche", beschreibt Norbert Bolz das Stadium der Metapräferenzen, in das die reichen Industrieländer eingetreten seien.

Zeitgenössische Werbung, von der das wahllose Ausprobieren von Identitäten im Namen der Selbstverwirklichung gepredigt wird, oder neue Einrichtungsshows im Fernsehen wie "A New Life", wo Wohnungen passend zu den geliehenen Identitäten umgestylt werden, mögen dieser Beschreibung recht geben. Die Konsumwelt ist zu einem Dschungel von Bildern, Zeichen, Emotionen und Wertmarken mutiert, in dem sich zurechtzufinden niemandem mehr leicht fällt.

Wie in diesem Chaos Werbung dennoch Orientierung leisten kann, stand auf der Agenda des neunten Hamburger Trendtags, ausgerichtet vom Trendbüro, dem einmal von Matthias Horx und Peter Wippermann gegründeten "Beratungsunternehmen für Gesellschaftlichen Wandel GmbH". Dass der Umsatz im deutschen Einzelhandel in den letzten zehn Jahren kontinuierlich zurückgegangen ist, allein 2002 um zwei Prozent, muss freilich auch die Werbung interessieren. Denn am anderen Ende der Konsumleiter bemühen sich ja Werbetreibende, die Leute zum Kauf zu überreden, oder um im Branchenslang zu bleiben: zu verführen.

Den Handel und die Hersteller glauben machen, dass Konsumenten durch schöne Worte und ansprechende Bilder zum Produkt gelenkt werden können, ist die hohe Kunst der Werbung. Von Zeiten schmalerer Gewinnmargen allerdings ist ihre eigene Dringlichkeit bedroht. Und so versammelt sich die Branche alljährlich auf dem Trendtag, scheut keine Mühen und Kosten (760 EUR pro Teilnehmer), um von den Gurus aus Marketing und Wirtschaft zu erfahren, wo es künftig entlang gehen könnte.

Karaoke Kapitalismus

Diese Richtung zu bestimmen, fiel den Beteiligten allerdings erkennbar schwer. Dem Gespinst aus Trends und Gegentrends, Moden und Erscheinungen scheint das dargebotene Gebräu von Rezepten und Mixturen aus Halbgegartem und fast Verdautem gut zu entsprechen. So empfahl "die Nummer 17 der fünfzig besten Denker weltweit", wie der norwegische Managementberater Kjell A. Nordström angekündigt wurde, das Prinzip eines darwinistisch inspirierten "Karaoke Capitalism": Weil jeder jeden kopiere und es wie beim Karaoke kein Original mehr gebe, könne nur derjenige erfolgreich sein, der entweder Erfolg imitiert oder aber sein Handicap zur Attraktion macht. Die auch für Darwin problematische Figur des Pfaus brachte Nordström schließlich zum "Survival of the Sexiest", zur altbekannten Distinktion durch Luxus, Überfluss und Irrationalität.

Norbert Bolz führte seine Zuhörer in einem Countdown von den vier Megatrends (Kommunikation, Mobilität, Spiritualität und Well-Being) über die drei Formen von Kundenerwartungen (befriedige mich, verführe mich, verändere mich) und den notwendigen zwei Arten des Mehrwerts eines Produkts (spiritueller und sozialer Natur) hin zum Zauberwort der "Kontingenz": "Alles was ist, ist auch anders möglich, aber nicht beliebig und keineswegs besser," definierte der Autor des "Konsumistischen Manifests" seinen eigenartigen Begriff. Dahinter steckt die nicht ganz frische Beobachtung, dass Werte nicht mehr hierarchisch geordnet sind, sondern wie in einem Karussell rotieren und mal diesen, mal jenen Wert ins gesellschaftliche Sichtfeld spielen und zum Ausprobieren einladen. Indiz sind für Bolz TV-Wettbewerbe wie "Deutschland sucht den Superstar", in denen das Publikum sich selbst und seine Macht zelebriert.

Online-Handelsplattformen entziehen sich herkömmlicher Werbung

Damit hatte die Tagung über die so genannte "Konsumenten-Demokratie", kurz "Konsumokratie" genannt, zu ihrem eigentlichen Thema gefunden. Angeblich haben jetzt die Konsumenten die Macht übernommen und regieren den Markt. So war es der Einladung zum Trendtag zu entnehmen. Neue und erfolgreiche Handelsplattformen wie Amazon und Ebay entziehen sich den traditionellen Gefilden, in denen Werbung noch wirkt. Das muss die Branche sorgen. Wenn selbst Handelshäuser wie Quelle bei Ebay einen Powershop einrichten und im ersten Monat bereits eine Umsatzsteigerung von 12,3 Prozent hinlegen - für das nächste Jahr wird mit zwei Milliarden Euro Umsatz gerechnet - sind offenkundig die Absatzstrukturen einer radikalen Änderung unterworfen.

Mit "Getting the best deal" beschrieb der Schweizer Marktforscher David Bosshart das neuzeitliche Kundenethos, dessen Grundtrieb von der Werbung selbst als "Geiz" markiert wird:

Zu der "Achse des Bösen", die ich übersetze als jene Mächte, die die Spielregeln verändern können, sind Wal-Mart, China und das Internet zu zählen.

Wal-Mart mache einen täglichen Umsatz von einer Milliarde Dollar, China sei zum billigsten und größten Konsumgüterproduzenten aufgestiegen und das Internet operiere als globales Konsumentenkartell. Der Werbung, so Bosshart, bleibt nichts anderes übrig als ihre Botschaften auf ein einziges Argument zu reduzieren "Billig!"

Auch Tim Renner blies in das selbe Horn und resümierte aus seinem Abgang bei Universal Music die Lehre, dass die Veränderung des Konsumentenverhaltens durch neue Technologien von der Industrie sorgsam beobachtet werden muss. Als Beispiel nannte er "Tivo", einen Festplattenrekorder, der die Werbepausen überspringt, indem er das letzte Filmbild vor der Werbung einfach mit dem ersten nach dem Werbeblock abgleicht.

Trendbüro-Chef Peter Wippermann wies auf den Vertrauensverlust hin, den traditionelle Institutionen wie Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften, aber auch Werbung und Medien erleiden. Politiker und Markenprodukte rangieren in einer aktuellen Umfrage des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung mit nur 14 Prozent Glaubwürdigkeit an gleich niedriger Stelle. Mit über neunzig Prozent sprechen die Befragten dagegen ihren Freunden und der Familie das Vertrauen aus. Das Internet hat diesen Impuls längst aufgegriffen und Rankings und Bewertungen in die Kaufabwicklung eingeführt. Websites für Paarungs- und Beziehungswillige wie Match.com, für Leute auf Freundessuche wie Friendsters.com oder für kommunikative Hundehalter nennt Wippermann "Socialware", sie betreiben die "Rationalisierung der sozialen Beziehungen" und basieren allein auf Kommunität und Weiterempfehlung.

Künstliche Welt der Trendforschung

Damit wäre Werbung ja überflüssig. Und das wäre gut so - zumindest gemessen am Menschenbild, das auf dem Trendtag gezeichnet wurde und in den Köpfen der Branche anscheinend dominiert.

Kjell Nordström scannt beim Partytalk nicht mehr die Berufsfelder seiner Gäste ab, um sich eine Vorstellung von der Person zu verschaffen, sondern deren Markenkleidung. Norbert Bolz glaubt, dass alle Lebenswirklichkeiten erst durch Konsum erschlossen werden. Und David Bosshart führt eine gesellschaftliche Unzufriedenheit auf zu viele Optionen beim Konsumieren zurück.

Dass indessen die Schnäppchenjagd für manche Menschen auf Existenznot gründet, dass der Billig-Boom nicht für alle eine "Verschiebung des Konsums auf später" (Bolz) bedeutet, dass die hemmungslose Rabattierung ein nie dagewesener Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel ist und dass die Einführung von RFID in Supermärkten (auch darüber gab es einen ausufernden, langweiligen Vortrag) Arbeitsplätze kosten und den Konsum weiter minimieren wird - darüber wurde in Hamburg vornehm hinweggesehen.

Darüber hinaus erscheint es einfach lachhaft, die "Konsumokratie" als Wunscherfüllung des Verbraucherschutzes auszuweisen, als Ausdruck mündiger und überinformierter Konsumenten - sie ist nichts weiter als eine Marketing-Parole, ersonnen von Werbern, die nun die Geister scheinbar fürchten, die sie riefen.