Schwimmen in der Informationsflut

Gehirnareal für Multitasking entdeckt

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Eines der Probleme der Informationsgesellschaft ist die Flut an Informationen, die mit immer mehr Medien und Telekommunikationsgeräten produziert, aber auch empfangen und verarbeitet werden müssen. Das Problem stellt sich nicht nur an vielen Arbeitsplätzen, sondern auch alltäglich etwa beim Autofahren, wenn man gleichzeitig mit dem Handy telefoniert, das Radio angeschaltet hat und auf den Verkehr achten muß, oder in der Freizeit, wenn man vor seinem Computer sitzt, Email liest, nebenbei telefoniert, Musik hört oder vielleicht auch noch den Fernseher laufen läßt. Mit dem Zwang oder auch dem Wunsch, ständig erreichbar sein zu müssen oder zu wollen und überall an die Informationsströme angebunden zu sein, wird unsere Situation mit wearable und ubiquitous computing womöglich bald der eines Piloten in einem Cockpit oder eines Kontrolleurs von Dutzenden von Überwachungsvideos gleichen.

Multitasking - ursprünglich eine Bezeichnung für die mittlerweile selbstverständliche Leistung eines Prozessor, mehrere Programme gleichzeitig zu bearbeiten - nennt man die Notwendigkeit und Möglichkeit, viele Dinge gleichzeitig im Auge behalten und schnell auf neue Situationen reagieren zu können. Manche wie Verkehrsminister Münteferring, der die Handybenutzung für Autofahrer verbieten will, oder wie der Hirnforscher Ernst Pöppel glauben, daß wir damit überfordert seien und unsere Aufmerksamkeit schädigen, die immer flüchtiger wird und zur andauernden Konzentration nicht mehr imstande ist, während andere danach süchtig werden, im Informationsmeer zu schwimmen.

"Michael Reed", so konnte man beispielsweise in der New York Times zu diesem Thema lesen, "fällt es schwer einzugestehen, daß er sich dann, wenn er zu einer Zeit nur eines macht, zutiefst unbefriedigt fühlt. Seine Wertschätzung seitens der Kunden ist sicherlich angestiegen, seitdem er auf ihre Email anwortet, sobald sie eingetroffen ist, egal ob er telefoniert, beim Essen sitzt oder ein Formular auf einem anderen Bildschirm bearbeitet." Er müsse viele Dinge auf einmal machen, behauptet er, um sich besser zu fühlen. Das mag vielleicht eine überzogene Zeitungsstory sein, aber es ist auf jeden Fall ein Stück weit Alltag und eine Anforderung, in die wir sicherlich mit unbekannten Folgen und Nebenwirkungen für unsere kognitiven Leistungen immer stärker hineinrutschen. Aufmerksamkeit, das Portal zur Wahrnehmung der Welt und von uns selbst, mag möglicherweise bei manchen durch das permanente Zappen und Starren auf die Oberflächen überstrapaziert werden, wenn wir uns wie bei einem schnellen Computerspiel oder einem ernsthaften Spiel an der wirklichen Börse permanent auf höchste Reaktionsbereitschaft halten, aber wir trainieren eben auch das Switchen und die Fähigkeit, mehr gleichzeitig auszuführen, als dies vermutlich vorhergehende Generationen tun konnten.

Allerdings haben kürzlich Wissenschaftler von der University of Reading in einem Artikel in der Maiausgabe des Journal of Psychology behauptet, daß Multitasking auch unerwünschte Nebenfolgen haben könnte. Versuchspersonen mußten wie Autofahrer auf wirkliche und risikobehaftete Verkehrssituationen auf einem Bildschirm reagieren und gleichzeitig einfache verbale Aufgaben erledigen. Im Unterschied zur Vergleichsgruppe, die sich auf das virtuelle Verkehrsspiel konzentrieren konnten, stieg bei den Multitasking-Kandidaten die Wahrscheinlichkeit, daß sie riskantere Entscheidungen trafen, also etwa näher an das vordere Auto heranfuhren oder signifikant langsamer reagierten, woraus man schließen könnte, daß unsere Handy-telefonierenden Zeitgenossen am Steuer für ihre Mitmenschen und sich selbst gefährlicher sind, als man bislang glaubte, weil sie eher Unfälle bauen.

Das gelernte und in Automatismen umgesetze Fahren, das nahezu ohne Denken abzulaufen scheint, erfordert natürlich gerade dann erhöhte Aufmerksamkeit, wenn keine Standardsituation vorliegt. Alle Arten von "Ablenkungen" sollen also die Sicherheit gefährden und die Reaktionsgeschwindigkeit herabsetzen. Andererseits nahm beim simulierten Fahren auch die Genauigkeit bei der Lösung der verbalen Aufgaben ab. Sprechen benötigt mithin auch Ressourcen, die von der Konzentration auf das Fahren abgezogen werden. Da würde dann auch das Münteferring-Verbot nicht greifen, daß aus der Sorge begründet wird, daß nur die motorische Ablenkung durch das Tippen der Nummer und das Halten des Handys Gefährdungen mit sich bringt. Andererseits handelte es sich eben um eine Simulation, was das Gefährdungsbewußtsein sicherlich verringert und deshalb wohl nicht unmittelbar mit dem Verhalten in einem wirklichen Auto zu vergleichen ist.

In den noch nicht allzusehr mit Multitasking konfrontierten 60er Jahren galt das Autoradio allerdings schon als Gefährdung für die dadurch abgelenkte Aufmerksamkeit - und schließlich reden wir ja auch gelegentlich mit den Mitfahrern oder reisen gegenüber früheren Zeiten mit erheblich höheren Geschwindigkeiten. Auch der Umstieg von der Kutsche auf den Zug, der zu Beginn mit den ersten Dampflokomotiven nur wenig schneller als ein Pferd fuhr, führte schon zu Warnungen selbst bei den Passagieren, weil sie durch Geschwindigkeit und gleichzeitig Monotonie überfordert seien. Daran alleine läßt sich schon sehen, daß zumindest eine Adapation durch ständige Aussetzung an eine neue Umgebung möglich ist. Wahrscheinlich gibt es auch einen Unterschied zwischen einer kurzzeitiger Konzentration und einer Tätigkeit, die lange Aufmerksamkeit bei relativ gleichbleibenden Situationen - z.B. eine Autobahnfahrt - verlangt. Um in einer monotonen Situation die Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten, ist Abwechslung, also Multitasking, geradezu notwendig. Sollte dies zutreffen, könnte man freilich aus der Sucht mancher Zeitgenossen nach Multitasking möglicherweise auf die Unterforderung oder Langeweile der Lebens- oder Arbeitswelt einen Rückschluß machen.

Eine andere Interpretation wäre natürlich die, daß die Zeit - und damit auch die Aufmerksamkeit - immer knapper wird und deshalb mehr zur gleichen Zeit ausgeführt werden muß, zumal weniger körperlicher Einsatz bei zumeist sitzender Tätigkeit verlangt wird. Man kann die Überlegungen aber noch ein wenig komplexer machen, schließlich haben die Menschen schon ziemlich lange gerade in religiösen Riten, den ersten Gesamtkunstwerken, die Fähigkeit des Multitasking nicht nur trainiert, sondern durch das Aufgebot der verschiedenartigsten Stimulationen unter Einschluß der Partizipation der Zuschauer von religiösen Spektakel auch bestimmte Stimmungen geweckt, also die "Seele" durch Multitasking massiert. Noch in den vorbürgerlichen Kirchen, Opern und Theatern war der passive Zuschauer/Zuhörer, der sich möglichst konzentriert und ruhig einer multimedialen Darbietung aussetzt, eine Seltenheit. Man lief herum und unterhielt sich, nebenbei die Aufführung beobachtend, also zerstreut, wie man heute sagen würde. Vielleicht brechen die Mitglieder der Informationsgesellschaft durch Multitasking, Interaktivität und Handlungs- sowie Wahrnehmungsoptionen nur wieder aus der Starre des distanzierten und konzentrierten Beobachters aus? Und eine Gewöhnung an solche Anforderungen könnte überdies bedeuten, daß schließlich eine Unterforderung durch ausschließliche Konzentration eintritt.

Es gibt freilich harte Beschränkungen beim Multitasking, die möglicherweise mit dem Unterschied zwischen Motorik und Perzeption zusammenhängen. Wir können zwar das Geschehen auf verschiedenen, nicht allzuvielen Bildschirmen und Szenen durch schnellen Wechsel der Aufmerksamkeit ebenso wie die Äußerungen mehrerer Personen einigermaßen oberflächlich mitbekommen, wir können vor allem eine motorische Leistung ausführen und nebenbei etwas anderes machen, aber wir schaffen es etwa nicht, gleichzeitig oder in schnell wechselnder Abfolge zu mehreren Personen von jeweils etwas anderem zu sprechen. Hier scheint die Aufmerksamkeit wie ein Scheinwerfer zu funktionieren, der immer nur weniges erhellt, oder wie das Auge, das ständig "zerstreut" über ein Bild springt, wobei erst das "langsamere" Bewußtsein die Illusion erzeugt, das ganze Bild mehr oder weniger im Auge zu haben.

Wissenschaftler von den National Institutes of Health wollen jetzt, wie Nature in der Ausgabe vom 13.5. berichtete, ein Gehirnareal im frontalen Assoziationskortex oder präfrontalen Kortex entdeckt haben, das in gewissem Sinn für Multitasking zuständig sein könnte. Bislang wußte man, daß dieses Gehirnareal aktiv ist, wenn Menschen komplexe Probleme lösen. Mit dem Verfahren einer funktionalen Magnetresonanzdarstellung (fMRI), bei der bewegte Echtzeit-Bilder der Gehirnaktivität entstehen, wurden die Gehirne von sechs Versuchspersonen beim Lesen sowie bei Erinnerungsaufgaben überprüft. Aus ihren Versuchen schlossen die Forscher, daß dieses Areal die Zeit und die Ressourcen verwaltet und und es ermöglicht, eine Art Prioritätenliste durch eine Verzweigung der mentalen Ressourcen abzuarbeiten. Das sei nicht nur wichtig bei Entscheidungsprozessen, sondern auch für jede Form des Multitasking, also etwa zu sprechen, während man kocht, oder den Nachrichten zuzuhören, während man fährt. Aktiviert wurde das Areal, d.h. die Seiten des frontopolaren präfrontalen Cortex, nur dann, wenn die Aufmerksamkeit der Versuchspersonen vorübergehend von der Hauptaufgabe abgezogen wurde, um eine weitere Aufgabe zu behandeln, während es bei der Konzentration auf nur eine Aufgabe nicht gebraucht zu werden schien. Die Aktivität war überdies unabhängig von der Komplexität der Aufgabe.

Allerdings scheint es nach der Auffassung der Forscher nicht möglich zu sein, wirklich gleichzeitig mehreres auszuführen. Nach dem Verzweigungsmodell werden nacheinander Sequenzen von Verarbeitungen in Zeitfenstern ausgeführt, was eher einem Zappen gleichen würde, wodurch stets abwechselnd eine Aufgabe im Vordergrund der Aufmerksamkeit steht und eine andere im Hintergrund, die solange ruht, bis sie wieder Zugang zum neuronalen Prozessor erhält. Die Kunst des perfektionierten Multitasking bestünde mithin darin, möglichst schnell zwischen möglichst vielen Aufgabenbereichen möglichst bruchlos hin und her springen zu können.