Sehnsuchtsort und Höllenpfuhl

Dawin Meckel: DownTown. © Copyright 2010 Dawin Meckel/OSTKREUZ Agentur der Fotografen, Berlin

Das Bild der Stadt im 21. Jahrhundert oszilliert jenseits romantischer Träume

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Jeder zweite Mensch lebt in der Stadt. Und Fotos sind es, die unser Bild von diesem Prozess bestimmen. So war die neue Rekordmarke, die die Urbanisierung im Jahr 2008 erreicht hat, auch Anlass für manche künstlerische und fotografische Bestandsaufnahme.

Eine davon ist derzeit in Berlin zu sehen, in der Agentur Ostkreuz im C/O Berlin: Die Stadt. Vom Werden und Vergehen (noch bis 4. Juli). 18 Fotografen reisten in die Städte und Ballungsgebiete rund um den Globus, von Lagos bis Las Vegas, von Detroit bis nach Tschernobyl.

Dawin Meckel: DownTown. © Copyright 2010 Dawin Meckel/OSTKREUZ Agentur der Fotografen, Berlin

Die Schau dokumentiert auch den gleichzeitigen Zerfall bestehender Städte, die schrumpfen oder zerstört werden. Dawin Meckel beispielsweise dokumentiert Detroit als Synonym für den Niedergang einer vormals zur Zukunftslegende erhobenen Autostadt.

Als Brücke zwischen den Kulturen gilt seit Jahrhunderten Istanbul, Metropole mit 15 Millionen Einwohnern. Die Kräfte der urbanen Globalisierung haben die Stadt am Bosporus unerbittlich ins Visier genommen. Kapitalanleger drängen in die profitabelsten Bereiche der Stadt. Immer mehr Boden wird auf den Markt geworfen und die Stadt einem unumkehrbaren Prozess der Neuausrichtung unterworfen. Kultur und Kommerz geraten dabei in eine nahezu unvereinbare Position.

Fabrikbesitzer verlegen ihre Produktion, um den früheren Standort teuer zu verkaufen, Straßenzüge werden dem neuen Geist entsprechend umbenannt, Kunst und Kulturerbe als geschäfts- und prestigeträchtige Geschäftsfelder neu definiert. Ein umstrittenes Gesetz erlaubt die "Erneuerung" historischer Gebiete. Und in der Tat, der "Masterplan" verschluckt eine alte, eine bestehende Stadt. Premierminister Erdogan hatte erklärt, er halte es für seine Pflicht, die Türkei marktfähig zu machen. Die fragwürdige Seite der Globalisierung: Alte Istanbuler Viertel werden zusammen mit verlassenen griechischorthodoxen Kirchen Objekte der Radikalsanierung, weichen "attraktiveren" Bauprojekten.

Eine Istanbuler Variante des Dubai Towers als höchstes Gebäude der Türkei mit einem Bauvolumen von fünf Milliarden Dollar ist im Gespräch. Die staatliche Behörde zur Entwicklung des Wohnungsbaus (TOKI) prognostiziert den Abriss der Hälfte(!) des Istanbuler Gebäudebestandes, rund 1,5 Millionen Objekte in den kommenden zwanzig Jahren. Bewohner der historischen Stadtkerne wie Sulukule werden sich weit draußen am neuen Stadtrand in zweckmäßigen Betonbauten wiederfinden.

Thomas Meyer: The Resort. © Copyright 2010 Thomas Meyer/OSTKREUZ Agentur der Fotografen, Berlin

Better City, Better Life? Wo sich Stadt als Lebens- und als Zukunftsraum behauptet, geschieht das immer häufiger gegen, nicht mit der Politik. "Stadt", das ist für viele nur ein Un-Ort, eine Wüste aus Beton und Dreck, ein Pfuhl stinkender Abwässer, Erlebnisort realer Gewalt. Doch auch die schicken Wolkenkratzer-Cities zeigen sich weit entfernt von der Romantik längst vergangener Metropolen. Die Turbo-Verstädterung hat die alten wie die neuen Bauplätze auf dem Planeten fest im Griff. Die "Große Stadt" als Sehnsuchtsort, als Schmelztiegel der Kulturen, als Ort zum Wohnen und für Gemeinsamkeiten scheint unwiederbringlich verloren. Die Hyperstadt wird zur Bildmaschine - sie selbst bringt phantasmagorische Bilder von sich hervor, generiert ihre eigene Zukunft. Und die Bilder fallen babylonisch aus.

Jahrhundert der Städte

Es ist der Abglanz der Stadt. Dort unten, wo der Lichtschein herkommt, wird Leben gezeugt, geboren, geschändet, Leben ausgehaucht, darüber hin lärmt tausendfältiges Leben in den Straßen, den Kaufläden, den Warenhäusern mit ihren Lichtreklamen, den Gasthäusern, Animierkneipen und Kaschemmen mit ihrem Bierdunst und schwülen Gerüchen, in denen Laster und Verbrechen gedeihen wie in riesigen Treibhäusern, in denen das Gift der Trunksucht und aller eklen Krankheiten von Leib zu Leib verbreitet wird.

Hermann Drechsler, Aktenstaub. Aus dem Tagebuch eines Wohlfahrtsdezernenten. Berlin 1932

Was der Berliner Stadtbeamte 1932 hier seinem Tagebuch anvertraute, entsprach dem Eindruck von der "Großen Stadt" als dem Ort gescheiterter Träume. Den Glauben an eine Epoche unbegrenzter Möglichkeiten, an urbanen Fortschritt, Technologie und Rationalität hatte bereits der I. Weltkrieg, hatten Armut, Depression, politische und soziale Bruchlinien erschüttert; und doch zeigt das skizzierte Bild Berlins eine heute fast romantisch anmutende Nachtseite der Zivilisation. Städte wie London, Berlin, New York, aber auch Tokio, Neu- Delhi, Jakarta wachsen und wuchsen als Bezugspunkte moderner Identität, aber sie ähneln einander auch in den Paradoxien und Schattenseiten menschlicher Hoffnung.

Annette Hauschild: Atlantis. © Copyright 2010 Annette Hauschild/OSTKREUZ Agentur der Fotografen, Berlin

Hunger, Kriminalität und Luftverschmutzung regieren in den meisten Großstädten der Welt heute, rund achtzig Jahre später. Es ist das Jahrhundert der Städte. Nie zuvor gab es so viele Metropolen. 25 von ihnen gehören zu den Megastädten. Gemäß einer Definition der UN leben in einer Mega-City mehr als zehn Millionen Menschen oder 2.000 Menschen pro Quadratkilometer. Diese Moloche beherbergen heute allein sieben Prozent der Weltbevölkerung. Aber es sind nicht die Megacities allein, die Illusionen und Probleme schaffen. Für die Urbanisierung des Planeten gilt generell: Seit 2008 leben erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Und jeden Tag kommen weltweit an die 200.000 neue Stadtbewohner hinzu (Der Boom der urbanen Korridore).

Ein unaufhaltsamer Prozess, der in den letzten Jahrzehnten in den Schwellen- und Entwicklungsländern monströse Ausmaße angenommen hat. Schon 2030 werden voraussichtlich mehr als zwei Drittel aller Erdenbürger Städter sein. Und es wird klar: Die Städte sind den Planern aus den Händen geglitten. Lagos, Istanbul, Shanghai erleben eine Zunahme der Bevölkerung, die nicht mehr zu kontrollieren ist. Die Namen der Metropolen verkommen zu Chiffren. Sind die Städte der Zukunft noch menschliche Siedlungen oder gigantische unregierbare Monstren?

Die Globalisierung führt zur Dominanz dessen, was Manuel Castells "Raum der Ströme" nennt. Einander ähnelnde Hochglanzfotos zeigen uns die Utopie eines immer gleichen Goliaths, dessen schillernde Facetten sich zu einer Kulisse, zu einem Fragment aus visuellen Bruchstücken zusammensetzen. Zwischen Heimat-Sehnsuchtsort und einem bloßen Geflecht metropolitaner Knotenpunkten (Castells) oszilliert das Bild der modernen Großstadt. Die Ortslosigkeit ist dabei selbst Motiv; Oberfläche ersetzt und vertritt Struktur und Sinn. Die Skylines der am Wasser liegenden Metropolen wie Manhattan, Hongkong oder Shanghai gleichen sich so sehr, dass sie verwechselbar werden. Ihre Homogenität, ihre demonstrativ auf Sichtbarkeit zielende Architektur produziert eine Leere, in der Bewohner nebensächlich scheinen. Als Ort der unverwechselbaren Umgebungen verliert die Stadt ständig an Bedeutung (Kehrt die Zeit der Stadtstaaten wieder?).

Better City - Better Life. Im Gastgeberland der Expo 2010 verkündet das Motto vielerorts nur eine längst schon begrabene Illusion. Die Hafenstadt Shanghai, Standort der Weltausstellung 2010, markiert gewollt oder ungewollt die eigentliche, die auf der Haut brennende Thematik, deren Botschaft lautet: Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass die Sogwirkung der Städte nachlassen könnte. Ganz besonders gilt das für China, das Land mit den meisten Millionenstädten - ausufernden Ballungsräumen, die tagtäglich Tausende mit dem Versprechen einer besseren Zukunft locken. China hält die Rekordmarke: 2008 zählte das Land allein 166 Millionenstädte (Chinesischer Regierung geht die Urbanisierung des Landes zu langsam)

Auch ein Weltrekord: Eine davon, Lanzhou, Millionenstadt am Gelben Fluss, wurde 1998 aufgrund ihrer abenteuerlichen Luftverschmutzung zur rußigsten Stadt der Erde gewählt; seither steht Lanzhou symbolisch für die großen Umweltprobleme vieler Metropolen. Nichtsdestoweniger zieht es die Menschen unausgesetzt aus ländlichen Gebieten in die Zentren und in die Randzonen der Cities. Auch in den Dörfern findet man zwar die Segnungen der Massenproduktion, Groschenromane, Softdrinks, Turnschuhe, Elektronik, aber gerade die Symbole westlicher Zivilisation sind es, die mit dem Versprechen auf Mehr locken.

Maurice Weiss: Ordos. © Copyright 2010 Maurice Weiss/OSTKREUZ Agentur der Fotografen, Berlin

Better Life? Kann die Stadt der Zukunft den Traum vom wahren Leben einlösen? Ist es das wahre? Viele sehen in der Stadt ihre einzige Chance. Trotz massenhaft erbärmlicher Wohnverhältnisse sind die Städte attraktiver als das Leben auf dem Land. Ein Grund dafür ist das dramatische Stadt-Land-Gefälle in den Ländern der Dritten Welt. In der Stadt gibt es größere Chancen auf Bildung und Ausbildung, auf lukrativen Erwerb und sozialen Aufstieg. Für etliche bedeutet die Metropole Flucht aus dem Teufelskreis von Armut und Hilflosigkeit. So wachsen die Megacitys ständig durch die Migration vom Land. Und der Fluchtbewegung entspringt andauernd die imaginäre Wunderwelt, immer aufs Neue. Als mächtige Triebfeder wirkt die mythische Erfolgsstory von Einzelnen, die in die Stadt zogen und dort ihr Glück machten.

Mythos, Porträt, Kulisse, Utopia

Nirgends in der Welt wächst die Zahl der Stadtbewohner so schnell wie in Afrika. Im Durchschnitt rechnet Afrika mit 4,3 Prozent Zuwachs an Städtern seit 2000 gegenüber 1,2 Prozent in Europa. Noch ist dieser Kontinent als ganzer zwar so ländlich geprägt wie kein anderer. Von 965 Millionen Einwohnern lebten 2007 noch mehr als 400 Millionen in ländlichen Gebieten. Doch die Landbevölkerung zieht es in die Ballungsräume am Golf von Guinea oder am Indischen Ozean, es locken die Städte entlang der Flussläufe von Niger, Kongo und Senegal oder die Metropolen auf den Hochebenen im Süden und Osten, von Johannesburg bis Nairobi. Der Klimawandel und die vielen nicht abreißenden bewaffneten Konflikte haben hier vor allem seit der Jahrtausendwende zu einer dramatischen Zunahme der Landflucht geführt.

Dicht gedrängt hausen die Menschen in Lagos in Nigeria zwischen gläsernen Bürotürmen und Bretterverschlägen. Hier teilen sich rund 14 Millionen Menschen, zehn Prozent der nigerianischen Gesamtbevölkerung, einen Lebensraum von 345 Quadratkilometern. Das entspricht 0,4 Prozent der Fläche des Landes. Schätzungen zufolge wird sich der Ballungsraum von Lagos bis 2020 zu einer Mega-Agglomeration mit 25 Millionen Bewohnern ausdehnen. Damit wäre Lagos eine der drei bevölkerungsreichsten Metropolen der Welt. UN-Habitat nennt solche Clustergebilde "Hyperstädte".

Heinrich Voelkel: the terrible city. © Copyright 2010 Heinrich Voelkel/OSTKREUZ Agentur der Fotografen, Berlin

Better Cities? Das Heer der Armen wandert in Städte ab, in denen es jetzt schon zu wenig Wohnraum gibt. In Tansania mit seiner inoffiziellen Hauptstadt Daressalam beispielsweise fehlen zwei Millionen Wohnungen. Arbeitslose, gestrandete Wanderarbeiter, durch Aids dezimierte Familien suchen Halt in Elendsvierteln, die längst aus den Nähten platzen. Der Hunger zieht mit: Eine Studie des International Journal for Equity in Health ergab, dass in fünfzehn Ländern des subsaharischen Afrika inzwischen mehr Stadt- als Landkinder unter Mangelernährung zu leiden haben. So sind die Bezeichnungen verschieden, aber das Elend ist dasselbe: In Nairobi gibt es die Slums, in Johannesburg heißen sie Shacks, in Luanda sind es die Muleques. 72 Prozent der afrikanischen Stadtbevölkerung, rund 300 Millionen Menschen, hausen und vegetieren in diesen schmutzigen Zivilisationswüsten. Keine 20 Prozent ihrer Haushalte sind an eine Wasserversorgung angeschlossen, nur sieben Prozent an ein Abwassersystem, Stromversorgung bleibt für die meisten ein unerfüllter Traum.

Slums sind auch Auffangbecken für vertriebene ehemalige Innenstadtbewohner, die Opfer von Immobilienspekulation geworden oder brutal aus den besseren Vierteln der Kolonialzeit verdrängt worden sind. UN-Habitat, das Siedlungsprogramm der Vereinten Nationen, warnte schon 2007: In den immer weiter anwachsenden informellen Siedlungen "bahnen sich die Konflikte der Zukunft an". UN-Habitat zufolge haben die meisten in Afrika tätigen Entwicklungshelfer die Dringlichkeit der urbanen Frage noch gar nicht erkannt. Die Regierungen verdrängen die Probleme und verkünden wider besseres Wissen, die Armut betreffe im Wesentlichen nur die ländlichen Regionen. Absurd: Gleichzeitig wächst und wächst das Heer der verarmten Städter. Hier sind es vor allem die 18- bis 25-Jährigen, die um einen Platz in der Gesellschaft kämpfen: Sie machen den Großteil der afrikanischen Bevölkerung aus, sie verkörpern die Zukunft (Understanding Slums).

Der Mythos der Großen Stadt zerbricht an der Urbanisierung

Sehnsuchtsbilder erzeugen die Wellblechhütten, die Plastikplanen und stinkenden Abwasserkanäle in den Randzonen der Megacities wohl nicht. Und trotzdem will der Mythos der Großen Stadt nicht sterben. Heinrich Wefing beschwort ihn 1999 rückblickend noch einmal so:

Wer von Urbanität spricht, ruft Sequenzen träumerischer Stadtansichten herbei. Regen auf Asphalt, mild gebrochenes Licht unter Bäumen, der Staub der Straße. Bildfolgen eines urbanen Utopia, das San Gimignano mit dem Boulevard Saint Michel verbindet. Ein ferner Sehnsuchtsort, auf dessen Avenuen kleine Tische stehen, wo Kaffeeduft in der Luft liegt, leichter Wein in beschlagenen Gläsern moussiert und Stimmen, Rufe, Autohupen sich kakophonisch verwirren.

Heinrich Wefing

Metropolen wie Paris, Mexiko City, Buenos Aires oder Tokio erwirtschaften zwischen 30 und 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der jeweiligen Länder. Doch immer wieder erreichen neue Horrormeldungen die Stadtplaner, und das längst nicht nur in China. Dort ist in vielen Großstädten schon heute die Trinkwasserversorgung für mehr als 300 Millionen Menschen gefährdet. Auf chronisch überfüllten Straßen knattern die Zweitakter und verbreiten ihren Gestank, und bald soll es überall das Auto sein, auch hier: Westliche Firmen loten bereits ihre Marktchancen aus, Peugeot etwa schafft gerade einen eigenen Vorstandsposten für das Reich der Mitte.

So ist es bei weitem nicht das mild gebrochene Licht unter Alleebäumen, sind es nicht die träumerischen Akkorde der pulsierenden guten alten Großstadt des Westens, die den Begriff der Stadt heute und in Zukunft ausmachen. Beispiel Mexiko-Stadt. Die 20-Millionen-Metropole liegt auf mehr als 2.200 Metern Höhe über dem Meeresspiegel, umgeben von Bergen und Vulkanen wie dem berühmten Popocatépetl, dem Iztáccihuatl und dem Ajusco.

Hier vermischen sich die Jahreszeiten: Sommer wie Winter ist die Stadt in einen bräunlichen Nebel aus Smog eingehüllt, besonders unangenehm sind die Belastungen in den Monaten der Trockenzeit, von November bis April. Auf den Straßen sieht man Menschen mit Atemschutzmasken. Etwa fünf Millionen Autos sind in Mexiko-Stadt registriert, Tendenz steigend. Währenddessen verlassen die Bewohner Detroits ihr Downtown, GM stürzt in die Krise, die legendäre Stadt beginnt aus der Mitte heraus zu zerfallen. Auch das ist Teil der globalen Paradoxien, Teil der dramatischen Veränderungen, denen die Begriffe und Vorstellungen von der Stadt weltweit unterworfen sind.

Nur vier der 25 sogenannten Megacities mit mehr als zehn Millionen Einwohnern befinden sich in der westlichen Welt, die anderen in Schwellen- und Entwicklungsländern. Für diese ist die Urbanisierung Chance und Risiko zugleich: Auf der einen Seite kaum zu beherrschende soziale Brennpunkte und steigende Umweltbelastungen, auf der anderen Seite sind die Ballungsräume jedoch auch Wirtschaftsmotor, im Optimalfall auch erstrebtes kulturelles und politisches Zentrum - notfalls erfindet man sich als solches neu.

"Verstädterung", so heißt es, ist nicht nur ein demografischer oder ökonomischer, sondern auch ein kultureller Prozess. Aber stimmt das? Noch kann niemand sagen, welcher Lebensstil und welche Stadtkultur sich beispielsweise in den Städten Chinas herausbilden wird. Deutlich sichtbar sind dagegen die planerischen Probleme und Konflikte, die den aktuellen Verstädterungsprozess begleiten. Ein Prozess, in dem Millionen von Menschen aus ärmlichen Verhältnissen in die moderne Konsumgesellschaft katapultiert werden. Gerade China kann sich kaum eine Pause in der rasanten Entwicklung leisten. Der demografische und soziale Druck verlangt den permanenten Boom: Eine Milliarde Menschen warten ungeduldig darauf, dass der Aufschwung auch sie erreicht (Auch in China wächst die Kluft zwischen Arm und Reich weiter).

Neoliberales Stadtmodell

Bleibt die Stadtkultur dabei auf der Strecke? Was in Chinas Städten derzeit noch fehlt, ist eine integrierte Stadtplanung, die in der Lage ist, die zentralen Politikziele, uneinheitliche Normen und lokale Prioritäten in einem strategischen Plan zu vereinen. Auch Information und Kommunikation in Politik und Verwaltung des Riesenlandes funktionieren noch lückenhaft und behindern so die Kenntnisse über Ursachen, Zusammenhänge und Folgen der Verstädterung.

Aber ob die sozialen, demokratischen oder kulturellen Ansprüche an die Stadt der Zukunft überhaupt eingelöst werden, bleibt trotz aller Konzeption und Organisation fraglich. Das Gespenst eines neoliberalen Stadtmodells geht um. Mit kalter Hand privatisiert es die öffentlichen Räume, wie derzeit in Istanbul ablesbar. Es sieht die Stadt als puren Standort, als profitables Unternehmen, reduziert ihre Komplexität auf Rendite. Beispiel Hamburg: Marketingregeln beherrschen seit Jahren die stadtplanerischen Entscheidungsprozesse, Bedenken von Bürgern und Anwohnern werden da schon mal vom Tisch gewischt. "Die Elbphilharmonie ist das beste Beispiel", so der Kritiker Christoph Schäfer:

Statt dringend benötigter Wohnungen baut man ein unfassbar teures Superzeichen, das Hamburg als maritimen, hochtechnologischen Wirtschaftsstandort ins Gerede bringen soll.

Spiegel 21/2010
Anne Schoenharting: Auroville. © Copyright 2010 Anne Schoenharting/OSTKREUZ Agentur der Fotografen, Berlin

Können Architekten und Planer aus westlichen Industrienationen den Organisatoren der Dritten Welt Vorbild sein? Der politische Wille wird oft durch das beherrschende Ziel gelenkt, ein Land oder eine Stadt "marktfähig" zu halten oder zu machen. Investmentgesellschaften und Baufirmen dominieren die Projekte, wirtschaftliche Interessen drängen soziale und künstlerische ins Abseits und finden ihren Ausdruck auch in Architektur und Baukörper einer ganzen Stadt.

Ein weiteres ernstzunehmendes Problem: In den Ländern Afrikas und Asiens mit ihrem starken Bevölkerungszuwachs siedeln immer mehr Menschen in überflutungsgefährdeten Gebieten. Nach Einschätzung von Experten wird in den kommenden sechs Jahrzehnten der Meeresspiegel infolge des Klimawandels einen halben Meter steigen. Die Zahl der Überschwemmungsopfer könnte sich bis zum Jahr 2070 verdreifachen.

150 Millionen Menschen sieht eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) deshalb in Gefahr. Demnach könnten im Jahr 2070 bis zu 150 Millionen Menschen von einer Überflutung betroffen sein. Zum jetzigen Zeitpunkt leben bereits 40 Millionen in den vergleichbaren Ballungsräumen. Auch der mögliche materielle Schaden durch Überschwemmungen in den untersuchten 136 Städten steigt laut der Studie rasant an: Bedrohte Infrastruktur und Immobilien repräsentieren heute einen Wert von rund zwei Billionen Euro; 2070 könnten bereits Werte im Umfang von 24 Billionen Euro betroffen sein.

Literatur (Auswahl)

Sehnsuchtsort und Höllenpfuhl (7 Bilder)

Dawin Meckel: DownTown. © Copyright 2010 Dawin Meckel/OSTKREUZ Agentur der Fotografen, Berlin