Selbstreplizierende Moleküle

Leben ohne DNA?

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Irgendwann in der Zukunft. Charles, von Beruf Chemiker, steht vor dem entscheidenden Experiment seiner Karriere. Die Vorversuche laufen seit Monaten, nun ist es soweit. Auf dem Labortisch steht ein unscheinbares Glasgefäß, heizbar, mit kleinen Schläuchen versehen. Charles stellt die Mikropumpen an. Durch diese werden mehrere, an sich harmlose Substanzen aus der Chemikaliengroßhandlung in das Glas überführt. Dort vermischen sie sich, reagieren miteinander und bilden einen heterogenen Brei. Auf der anderen Seite sorgt ein weiterer Schlauch dafür, daß das Ganze nicht überläuft. Nach drei Stunden zeigen die Meßgeräte die erwarteten Signale und Charles notiert sichtlich gerührt in sein Laborjournal: "15:30 Uhr, zum ersten Mal Leben im Reagenzglas künstlich erzeugt".

Aber woher weiß eigentlich unser ehrgeiziger Chemiker, daß seine Freudentränen berechtigt sind? Was messen die Sonden? Und schwupp, gefangen in der Definitionenfalle. Was heißt "Leben"? An Begriffsbestimmungen mangelt es nicht - geeinigt hat man sich allerdings nie. Es gibt jedoch so etwas wie einen kleinsten gemeinsamen Nenner, bei dem die meisten ihr OK geben. Demnach zeichnet sich ein einfaches lebendes System durch folgende Eigenschaften aus: es ist in der Lage sich selber zu vermehren (Selbstreproduktion), es macht dabei Fehler (Mutationen) und es ist in der Lage Energie umzusetzen, das heißt es besitzt einen Metabolismus. Dies sind nur notwendige und nicht hinreichende Kriterien für das Phänomen "Leben", aber immerhin. Charles hat also in seinem Brei mindesten diese drei Charakteristika gefunden.

Die gezielte Synthese von lebenden Systemen ausgehend von einfachen Chemikalien ist im Moment noch den Helden von Nanotechnologie-Romanen vorbehalten. Die Betonung liegt auf einfachen Chemikalien. Wendet man einige biochemische Tricks an, zum Beispiel von der Natur optimierte, hochkomplexe Katalysatoren (Enzyme), dann stehen die Chancen schon besser. Aber dies kommt für reduktionistische Schöpfergeister wie Charles natürlich nicht in Frage.

Gegenwärtig wird in mehreren Laboratorien der Welt versucht, zentrale Eigenschaften von lebenden Systemen auf molekularer Ebene zu simulieren. Diese Forschung zielt nicht so sehr auf die Erschaffung von neuem Leben, hier sind Chemiker - wie bereits erwähnt - den Molekularbiologen hoffnungslos unterlegen, als vielmehr auf ein tieferes Verständnis, wie das Leben auf dieser Erde (und anderswo?) angefangen hat. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei selbstreplizierenden Molekülen.

"Selbstreplikation": bei diesem Begriff denkt man schlimmstenfalls an Dolly, bestenfalls an Sex. Was hat man sich jedoch unter Molekülen vorzustellen, die sich selber vermehren? Nichts Spektakuläres:: es handelt sich lediglich um Moleküle, die sich selber aus geeigneten Bruchstücken zusammensetzen können. In Hinblick auf die Frage nach dem Ursprung des Lebens ist es außerdem wichtig, daß diese Moleküle Information speichern und über spezifische Wechselwirkungen an die nachfolgende Generation weitergeben können.

Paradebeispiel für ein informationstragendes Molekül ist die DNA mit ihrer variablen Abfolge von Nucleobasen. Vor 12 Jahren konnte in der Arbeitsgruppe von Gunter v. Kiedrowski erstmals nachgewiesen werden, daß kurze, DNA-artige Moleküle unter geeigneten Bedingungen ihre eigene Synthese katalysieren können. Das Experiment hat in der Fachwelt für einiges Aufsehen gesorgt und insbesondere Anhänger der RNA-Welt Theorie waren überglücklich. Diese Theorie beschreibt die Entstehung des Lebens als einen Selbstorganisations-Prozeß von RNA-artigen (und damit DNA-artigen) Molekülen, gefolgt von einer evolutiven Optimierung. Der ganze Rest - insbesondere die für jede Zelle lebensnotwendigen Enzyme - soll dann erst später dazugekommen sein.

Die eleganten Experimente von v. Kiedrowski fanden bald Nachahmer. Ein Team am Massachusetts Institute of Technologie unter der Leitung von Julius Rebek synthetisierte selbstreplizierende Moleküle, die mit der DNA-Struktur nur noch sehr entfernte Ähnlichkeit hatten. Unglücklicherweise sind diese Moleküle nur in organischen Lösungsmitteln aktiv; ein Tropfen Wasser führt zur Unfruchtbarkeit.

Animation von Kay Severin

Ein weiterer Durchbruch kam dann im Sommer 1996. Forscher in der Gruppe von Reza Ghadiri am renommierten Scripps Research Institute in Kalifornien konnten erstmals nachweisen, daß auch Peptide in der Lage sind sich selbst zu replizieren. Peptide gehören zu der Gruppe der Eiweiße. Eiweiße sind lange, kettenförmige Moleküle und stellen neben der DNA die wohl wichtigste Stoffklasse in lebenden Organismen dar.

Nun freuten sich die Anhänger der Peptid-Welt Theorie wie etwa der Komplexitäts-Forscher Stuart Kauffman. Kauffman hatte in theoretischen Arbeiten bereits vor Jahren postuliert, daß Mischungen von Peptiden in der Lage sei sollten, sich selber zu replizieren und daß diesen Peptid-Ensembles bei der Entstehung des Lebens eine zentrale Rolle zukommt.

In Anlehnung an diese theoretischen Betrachtungen hat sich Ghadiris Gruppe in den letzten zwei Jahren mit dem Verhalten komplexer Mischungen von potentiell selbstreplizierenden Peptide beschäftigt. Dabei sind sie auf eine Reihe überraschender Ergebnisse gestoßen. So konnten sie zeigen, daß zwei um gemeinsame Ressourcen kämpfende Peptide unter bestimmten Bedingungen altruistisches Verhalten zeigen, das heißt diese Peptide helfen sich gegenseitig bei der Vermehrung. Weiterhin konnte Ghadiris Team einen Mechanismus aufklären, mittels dem sich replizierende Peptide gegen ungünstige Mutationen schützen. Gegenwärtig wird versucht die Komplexität ihrer "molekularen Ökosysteme" sukzessive zu steigern, um vielleicht neue, emergente Eigenschaften solcher Mischungen zu entdecken.

Grafik von Kay Severin

Was sagen uns solche Untersuchungen nun über den Ursprung des Lebens?Im Grunde nicht viel. Unter bestimmten Bedingungen sind also kurze Peptide und DNA-artige Moleküle in der Lage, sich selber zu vermehren. Und dies mit nicht gerade beeindruckender Effizienz. In der "Ursuppe" haben solche Reaktionen sicherlich nicht stattgefunden. Man kann allerdings verstehen, daß Theoretiker nach Jahren abstrakter Gehirnakrobatik diese ersten experimentellen Hinweise freudig begrüßen.

Dennoch wird mit diesen Versuchen ein neues Kapitel in der chemischen Grundlagenforschung aufgeschlagen. Erstmals ist es gelungen, völlig künstliche, selbstreplizierende Systeme zu synthetisieren. Mit den geeigneten Instrumenten kann man dabei direkt zusehen und viel über die Voraussetzungen solcher Prozesse lernen. "Leben" ist dies natürlich noch lange nicht, was auch immer man darunter versteht. Auf einen freudig grinsenden Charles werden wir leider - oder zum Glück - wohl noch eine Weile warten müssen.

Auf der Homepage von Kay Severin finden sich weitere Artikel zum Thema der Peptid-Selbstreplikation.