Sex, Violence, Language

Über freiwillige Selbstkontrolle im amerikanischen Kino und Schwierigkeiten bei der Standardisierung der Prüderie

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Schon oft ist aus europäischer Sicht über die puritanische Prüderie amerikanischer Sittenwächter gelästert und gespottet worden. Es scheint in den USA unzählige Organisationen, Vereine und Initiativen zu geben, die gegen Schmutz und Schund in den Medien kämpfen. Das hat Tradition: Mit Kopfschütteln denkt der Kenner deutscher Nachkriegsliteratur an Uwe Johnsons Qualen bei dem Versuch, ein Lesebuch mit Texten von deutschen Kollegen für den amerikanischen Schulbuchmarkt zusammenzustellen: Die Liste der Verbote war so lang, dass Johnson kaum geeignetes zeitgenössisches Material fand. Es durften weder Alkohol, noch Drogen, noch Sex vorkommen, gerade so, als habe all das im Leben amerikanischer Schüler um 1968 keine Rolle gespielt. So weit, so bekannt.

Was die Filmwirtschaft angeht, so ist ebenfalls seit 1968 die Classification and Rating Administration (CARA) für die freiwillige Selbstkontrolle im amerikanischen Kino zuständig, gesponsert von der Motion Picture Association of America (MPAA) und der National Association of Theatre Owners, die, kein Witz, ganz offiziell mit NATO abgekürzt wird. Diese Verbindung von Krieg und Kino per Abkürzung wäre natürlich Paul Virilio ein großes, um nicht zu sagen, grimmiges Vergnügen.

Dabei geben sich in Fragen der Filmzensur aber weder die MPAA noch die NATO sehr kriegerisch, im Gegenteil, man behauptet, sie sei gar keine. Jack Valenti (MPAA) betont die "induzierte Freiwilligkeit" des seit 1968 geltenden Systems und preist es als gerechten und sinnvollen Ersatz für den "Hays-Code", der von 1922 - 1968 das Erlaubte und Nichterlaubte im Film auf so absurde Weise geregelt hatte, dass er im Rückblick dialektisch als Ansporn für die Kreativität der Regisseure gesehen wird.

Auch die CARA will nicht gelten lassen, daß es sich bei dem Rating-System um ein Mittel der Zensur handelt, sondern möchte die fünf Bewertungsstufen (G, PG, PG-13, R, NC-17) als Richtlinie für die Eltern verstanden wissen. In gut amerikanischer Tradition werden der Familie die Regeln zu Durchsetzung anempfohlen, die das Gemeinwesen oder wenigstens die moral majority verhängt. Aber was in den gepflegten Diskursen über Verantwortlichkeit und Familienwerte als freiwillige, non-restriktive und beinahe vernünftige Maßnahme erscheint, führt zu dem seltsamen Phänomen, dass jeder Film, jede Videokassette, ja sogar jeder Trailer in den USA einer moralischen Prüfung unterworfen wird, an deren Ende verrätselte Kurzsätze stehen - wie die Krebswarnungen auf Zigarettenpackungen statutarisch und enigmatisch zugleich. Auf dem Weg von der differenzierten Betrachtung eines Filmwerks zu der Kurznotation in der Fußzeile des Vorspanns geht der ganze Sinn verloren. Wie in einem absurden Beispiel für Datenreduktion entfällt nach der diskursiven Verkürzung das Verhältnis der Botschaft zum Thema. Was könnte ein Kulturanthropologe der Zukunft aus Botschaften wie diesen herauslesen?

  1. Language including sexual references and some rear nudity
  2. Sexuality, nudity and language
  3. Brief strong language and some thematic elements
  4. Violence, Language, A Sex Scene, And Brief Drug Use
  5. Rated R for strong violence and gore, and sexuality/nudity

Wohl doch nichts anderes als eine institutionalisierte Paranoia gegenüber Gewalt und Sexualität - die passgenau-reziproke Gefühlslage zu einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem alle Formen von Gewalt und entfremdete Sexualität die Regel sind. Und gleichen diese Filmratings nicht auch den kurzatmig hervorgestoßenen Formulierungen, die als Jetons der Moral ("Killerspiele" etc.) nach dem Erfurter Schulmassaker in die Zensurdebatte geworfen werden?

Im Grunde ist sowieso klar, dass es keinen Sinn macht, Kinder pausenlos Gewaltdarstellungen auszusetzen. Wer ehrlich ist, wird sich um die schmerzliche Schlussfolgerung nicht herumdrücken können, dass Zensur stattfindet und stattfinden muss. Aber genau diese Ehrlichkeit fehlt sowohl dem amerikanischen Filmrating-System als auch den saisonalen moralischen Bekenntnissen konservativer Kanzlerkandidaten. Denn sowohl die Ratings als auch diese Bekenntnisse sind nichts weiter als das veröffentlichte schlechte Gewissen von Gesellschaften, die ihren angeblichen Werten und dem Guten überhaupt schon gerne folgen würden, aber nur virtuell gegen das Böse antreten, weil es im wirklichen Leben so überaus nützlich ist.