Sexualität der Jugendlichen wird durch Porno-Filme geprägt

Nach einer französischen Umfrage sehen fast die Hälfte der Heranwachsenden ihren ersten Porno-Film zwischen 11 und 15 Jahren, was wieder einmal zu einer Diskussion über den verderblichen Einfluss der Medien führt

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Während man in Deutschland noch nach dem Massaker von Erfurt über die Auswirkungen von Computerspielen mit Gewaltdarstellungen wie Ego-Shooter auf Kinder und Jugendliche spricht, hat Liberation in Frankreich wieder einmal eine Diskussion über den Einfluss von Pornos angestoßen. Anlass ist eine Umfrage, nach der fast die Hälfte der Kinder ihren ersten Porno-Film zwischen 11 und 15 Jahren gesehen haben. Einen Tag nach der Veröffentlichung in Liberation wurden zudem Einzelheiten einer Gruppenvergewaltigung einer 15-jährigen Schülerin durch 8 ihrer Klassenkameraden in Lyon bekannt. Angeblich häufen sich in Frankreich solche Massenvergewaltigungen, die von Minderjährigen ab 13 Jahren begangen werden. Mitschuld daran wird den Medien gegeben. Die Diskussion ähnelt sich: "Mehr und mehr durch 'harte' Bilder eingeweiht", so meint Liberation, "können manche Jugendliche nicht mehr zwischen der Fiktion, in der die Frauen niemals nein sagen, und der Wirklichkeit unterscheiden."

Die Umfrage ist freilich weder besonders aktuell noch sehr repräsentativ, auch die Ergebnisse sind wenig überraschend. Doch sind sie ein Anlass, einmal wieder die Rolle der Medien zu erörtern, die tatsächlich eine unübersehbare gesellschaftliche Bedeutung erlangen, weil Medienbenutzung zu einem immer wichtigeren Bestandteil der Lebenswelt wird. 1998 hat die Schulärztin Claude Rozier, die auch Sexualkundeunterricht gibt, 85 Fragebogen an vier Oberschulen verteilt, die anonym ausgefüllt wurden. Rozier will schon zuvor über Diskussionen in vierten Klassen erfahren haben, dass manche Schüler über "ein umfassendes Wissen, eine breite Kultur der Pornographie" verfügen. Angeblich haben die Schüler bereits eine sehr pornographische Vorstellung von der Sexualität und besonders die Jungen von der Rolle der Frauen, die als stets lüstern gelten.

Nach der Umfrage haben 85,9 Prozent der Jugendlichen (81 Prozent Mädchen, 89 Prozent Jungen) bereits mindestens einen Pornofilm gesehen, 42,5 Prozent bereits im Alter zwischen 11 und 15 Jahren. Meist geschah dies beim Fernsehen oder, nicht ganz so oft, über ein Video. Das Internet, das für Kinder und Jugendliche einen leichten Zugang zumindest zu Pornobildern und kurzen Videos ermöglicht, war offenbar für die Umfrage noch kein Thema. Wie erwartbar zeigten die Jungen dafür mehr Interesse und Lust als die Mädchen, die sich danach öfter schuldig fühlten. Mehr Mädchen (43,3 Prozent) glauben auch, dass Pornoszenen die eigene Vorstellung von der Sexualität beeinflussen können als die Jungen (37,2 Prozent).

Ich bevorzuge realistische Filme, im dokumentarischen Stil.

Stanislas, 14 Jahre

Offenbar erfüllen Medien im Hinblick auf Sexualität eine Stellvertreterfunktion. Zumindest sagten die Befragten, sie würden sich Pornos anschauen, um Informationen über die Sexualität zu erhalten. 34 Prozent sind der Meinung, diese auch so gefunden zu haben. Dafür sagen fast 70 Prozent, dass sie selten oder noch nie mit ihren Eltern über Sexualität gesprochen haben. Dafür meinen 85,9 Prozent, dass es wünschenswert wäre, darüber zu sprechen. Das aber wird offensichtlich durch die Haltung von Erwachsenen nicht erfüllt, die wie früher lieber die Aufklärung übergehen, sie aber jetzt den leicht zugänglichen Medien überlassen. Auch die Schulleiter zeigten sich von der Umfrage nicht angetan, weil sie Beschwerden der Eltern fürchteten und lehnten sie daher oft ab. Zumindest solle man Worte wie "Lust" oder "Erregung" nicht in der Umfrage verwenden, schlug ein Schulleiter vor. Die Erwachsenen haben, wie Rozier sagt, "oft eine beunruhigende Vorstellung von der Sexualität der Jugendlichen", die sie sich als hemmungslos denken. Daher würden sie dazu neigen, lieber nicht davon zu sprechen. Und schließlich sehen ja auch die Erwachsenen Pornos und müssen womöglich ertragen, dass ihr sexuelles Leben von der pornographischen Montage der Attraktionen erheblich abweicht.

Ähnlich wie bei der Gewalt in Computerspielen geht man auch hier davon aus, dass pornographische Szenen sich in den Gehirnen der jungen und sexuell unerfahrenen Menschen einprägen und zu Vorbildern werden können, denen nachgeeifert wird. Möglicherweise werden erst Vorstellungen erweckt, auf die Menschen nicht kämen oder die sie nicht als Phantasmen verfolgen würden, wenn sie diese nicht dutzendfach wiederholt und - im Gegensatz zu existierenden Ego-Shootern - ganz realistisch von wirklichen Menschen aufgeführt sehen würden.

Technisch kenne ich alles, aber ich habe Angst vor dem ersten Mal.

Romain, 15 Jahre

Benoit Felix, der in dem Aidszentrum Crips arbeitet und viel Kontakt mit Schülern hat, meinte gegenüber Liberation, dass die Fragen der Jugendlichen über Sexualität seit sieben oder acht Jahren von der Erfahrung mit Pornos bestimmt würden. Da geht es um Sodomie, Gruppensex, Gruppenvergewaltigung oder "fist fucking". Pornos als Vorbilder aber würden die sowieso schon komplizierten ersten sexuellen Erfahrungen nur noch schwieriger und oft auch frustrierender machen: "Früher war der Porno-Film für die Frustrierten bestimmt. Heute schafft er ganze Generationen von Frustrierten." Überdies würden die Missverständnisse zwischen den Geschlechtern wachsen. So würden die Jungen "glauben, dass die Mädchen wie in den Filmen ja denken, wenn sie nein sagen".

Dieser schon lange vermuteter, aber nie wirklich empirisch nachgewiesener Kausalzusammenhang zwischen dem Sehen von Pornos und der Neigung zu Gewalt (vergewaltigungsmythos), wird auch von dem Staatsanwalt Robert Esch unterstellt, der die Gruppenvergewaltigung in Lyon untersucht. Zunächst hatten zwei der Jungen das Mädchen mit Gewalt in einen Eingang gezerrt und dort vergewaltigt. Dann hatten sie über das Handy noch weitere Klassenkameraden angerufen. Mindestens sechs weitere Jungen sind gekommen und haben sich ihren Vorgängern anschlossen. Die Vergewaltigung war bereits vor einigen Wochen geschehen, das Opfer vertraute sich erst einen Monat danach einer Psychologin an, die den Vorfall der Polizei meldete. Ein Täter, so Esch, habe mittlerweile gestanden, der Rest würde weiterhin darauf bestehen, dass Mädchen den Sex wollte: "In ihren Köpfen ist das, was geschehen ist, eine Art virtuelles Spiel. Sie scheinen keine Vorstellung über die Schwere der Taten zu haben, derer sie beschuldigt werden." Esch habe ihnen geglaubt, als sie ihm versicherten, nichts Falsches getan zu haben: "Und das ist es, was mich beunruhigt."

Gesehen haben sicherlich viele Kinder und Jugendliche bereits vor ihren ersten sexuellen Kontakten Pornos mit den üblichen Sexdarstellungen, ob sie aber deswegen gleich in einer Welt leben, in der sie in Pornobildern schwimmen, ist eine andere Frage. Dass realistische Pornos Kinder und Jugendliche beeindrucken, dürfte nicht zu bezweifeln zu sein, ebenso wenig, dass sie Erwartungen gegenüber den Sexualpartnern und der eigenen Rolle prägen können, auch wenn die "Vorbilder" und Verhaltensmodelle sicherlich nicht einfach platt übernommen werden. Dass Pornos wie bei Erwachsenen auch bei Jugendlichen als Stimulation zur Masturbation dienen, ist klar, aber ob es einen direkten Kausalzusammenhang etwa zwischen Gewaltausübung und pornographischen Gewaltdarstellungen gibt, ist wahrscheinlich wie bei Computerspielen eher Ansichtssache.

Der Unterschied zwischen der Erfahrung eines Beobachters oder Voyeurs und der eines Teilnehmers dürfte wohl kaum, wenn man nicht an perfekten VR-Sex denkt, den es aber (noch) nicht gibt, einzuebnen sein. Ob Pornos für manche die mehr oder minder bewusste Vorstellung vermitteln, dass so normale Sexualität ausagiert werden sollte und von vielen ausgelebt wird, mag durchaus der Fall sein, doch ist Sexualität auch schon vor der Existenz von Pornos und deren leichte Zugänglichkeit für Kinder und Jugendliche von überschießenden Vorstellungsbildern und gehörten oder erzählten Geschichten, von Erwartungen und Ängsten durchzogen und überlagert.

Überdies sind Pornos in aller Regel nur die bildliche Umsetzung einer Sexualität ohne Liebe, wie sie dies seit jeher bereits in der Prostitution gibt. Schon sehr früh nicht nur Geschichten, einen heimlich Blick auf einen Geschlechtsakt oder stimulierende Fotografien von nackten Leibern und über all das, was sexuell möglich ist, zu erlangen, sondern realistische Bilder des selbst noch nicht Erfahrenen zu sehen, verändert sicherlich die Fantasiewelten, die mit der vorgestellten und wirklichen Sexualität immer schon einhergehen. Was sich gegenüber der Zeit vor dem Zugang zu Porno-Filmen verändert hat, ist vermutlich nicht, dass Gewalt oder andere Handlungen wegen des größeren Realismus der Film- oder Videobilder eher nachgeahmt werden, sondern dass die Bilder der individuellen Fantasie noch weniger Raum lassen und Sexualität in Stereotypen einzwängen. Das mag die sexuelle Lust hemmen, was schließlich auch zur Gewalt führen kann, weil der Andere nicht mehr wirklich als Person erscheint, doch die Gleichgültigkeit gegenüber dem Anderen, der nur noch als austauschbares Objekt der sexuellen Begierde auftaucht, ist vermutlich auch Ausdruck einer Einsamkeit, die nicht auf Pornos zurückführbar ist und höchstens indirekt durch das Leben in Medienumwelten verstärkt wird.

Anders gesagt: Möglicherweise ist nicht, wie gerne geglaubt wird, die Verwechslung von Realität und Fiktion oder die Nachahmung des in Medienprodukten Erfahrenen das Problem, das heute in Form der Suche nach Kausalzusammenhängen von einigen spektakulären Fällen wie einem Schulmassaker oder einer Gruppenvergewaltigung von immer jüngeren Tätern verhandelt wird. Umgekehrt könnten manche dieser Gewaltexplosionen nur die deutlich sichtbarsten Symptome für den zunehmenden Verlust wirklicher Erfahrung oder der Erfahrung des Wirklichen sein. Ebenso wie die Medien technisch und inhaltlich sich in einer Spirale der Überbietung bewegen, um sich dem Realen zu nähern und die mediale Differenz auszulöschen, könnte in der Psyche der Menschen, die dieser Annäherung an den Realismus immer stärker ausgesetzt sind, ein Ungenügen am Wirklichen entstehen, das durch immer extremere Erfahrungen gewissermaßen als wirkliche Erfahrung bewiesen werden muss. Auf diese Weise könnten sich Medien und Erwartung auf etwas kompliziertere Weise gegenseitig hochschaukeln, als dies die banale These von der Nachahmung des in Medien Gesehenen beinhaltet.