Sieg der Lobbyisten

Im Streit um die Gesundheitsreform wurden viele der sozialen Elemente wieder rückgängig gemacht

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Das monatelange Gezerre um die von den Koalitionsparteien eigentlich schon beschlossene Gesundheitsreform war auch ein Kampf der Lobbyisten hinter den Kulissen. Vor allem die wirtschaftsnahe Initiative Soziale Marktwirtschaft war dabei recht erfolgreich. Eine von ihr in Auftrag gegebene Studie, die in der Öffentlichkeit meist nur als Studie eines Kieler Wissenschaftsinstituts bezeichnet wurde, war für Teile der Unionsparteien die Steilvorlage zum Angriff auf die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und den gesundheitspolitischen Sprecher Karl Lauterbach. Die Medizinsoziologin Nadja Rakowitz ist Geschäftsstellenleiterin des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzten und sieht die Diskussion um die Gesundheitsreform als Teil einer Auseinandersetzung über die Zukunft des Gesundheitssystems in Deutschland.

Seit Monaten streitet die große Koalition über die Gesundheitsreform. Was ist der Kern der Differenzen?

Nadja Rakowitz: Der Knackpunkt scheint im Moment die Zukunft der privaten Krankenkassen zu sein. Auch von vielen linken Kritikern der Reform wurde anscheinend übersehen, dass die Gesundheitsreform durchaus nicht nur unsoziale Elemente enthielt. Die privaten Krankenkassen hätten unbefristet einen Basistarif anbieten müssen. Diese Regelung hätte in der Konsequenz bedeutet, dass ältere oder kranke PKV-Versicherte die Möglichkeit gehabt hätten, in diesen billigeren Basistarif der Privatkassen zu wechseln. Das hätte in Zukunft Auswirkungen auf die Finanzierung der Krankenkassen gehabt. Gutverdienende jüngere Kassenmitglieder hätten dann eben auch für die ärmeren und schwächeren Teile der Gesellschaft zahlen müssen. Das wäre ein Stück mehr soziale Gerechtigkeit und – in the long run – eventuell sogar das Ende der Privatversicherung als Vollversicherung gewesen. Damit wäre ein zentrales Element der „Zwei-Klassenmedizin“ verschwunden gewesen. Dagegen liefen die Lobbyverbände der Privatkassen sowie der Ärzteorganisationen Sturm. Hier ist meines Erachtens unter anderem der Hintergrund für das monatelange Gezerre um die Gesundheitsreform zu suchen. Und natürlich bei den Finanzierungsfragen und den Auswirkungen auf die Länder.

Warum wurden diese sozialen Momente der Gesundheitsreform bisher in der Öffentlichkeit zu wenig beachtet?

Nadja Rakowitz: Dahinter steckt sicher auch die Vorstellung, dass die große Koalition eine unsozialere Politik als Rot-Grün macht. Doch bei der jetzt geplanten Gesundheitsreform stimmt dieses Bild nicht ganz. Die unter Rot-Grün auf den Weg gebrachten Reformen im Gesundheitswesen haben – neben der drastischen Verlagerung der Kosten auf die Arbeitnehmer und die Kranken – z.B. dazu geführt, dass viele Menschen durch die Ritzen des Versicherungssystems gerutscht sind und nicht mehr versichert waren. Man geht im Moment immerhin von ca. 300.000 Nichtversicherten in Deutschland aus. In der aktuellen Reform ist eine Versicherungspflicht für alle Bürger vorgesehen, womit die verheerenden Folgen der rot-grünen Reform ein Stück weit rückgängig gemacht werden – was die SPD jetzt als ihren Erfolg feiert!

Was hat die Auseinandersetzung der letzten Wochen bei der Gesundheitsreform verändert?

Nadja Rakowitz: Die wenigen sozialen Elemente in der Reform wurden zum Teil wieder rückgängig gemacht. So soll der neue Basistarif der privaten Krankenkassen nur vorübergehend zur Verfügung stehen, was die PKV insgesamt verschont. Auch die bei den Apotheken geplanten Einsparungen von 500 Millionen Euro jährlich wurden zurückgenommen; man rechnet, dass die jetzt getroffene Regelung für die Apotheken bloß noch ca. 150 Millionen Euro einspart. Das kann man als Erfolg der Lobbyorganisationen und großer Teile der Unionsparteien sehen. Wobei man sagen muss, dass die CDU/CSU in dieser Frage auch keine einheitliche Position vertritt. So war Verbraucherschutzminister Seehofer z.B. ein entschiedener Vertreter der Bürgerversicherung. Und die neue Regelung für die Apotheken kritisierte er zurecht als „Ablasshandel“ – wenigstens schreibt das die Berliner Zeitung. Es wäre sicher interessant zu untersuchen, ob der aktuelle Machtkampf in der CSU neben Personalquerelen nicht auch einen politisch-inhaltlichen Kern hat: Nämlich die sozial(-demokratisch)en Strömungen innerhalb der Partei zurückzudrängen und die CSU ganz auf neoliberalen Kurs zu bringen.

Die Reform legt die künftige Ausgestaltung des Gesundheitssystems noch nicht fest, aber die Zeichen stehen auf marktwirtschaftlichen Umbau

Wird schon von einer Reform der Reform geredet – spätestens nach den nächsten Wahlen?

Nadja Rakowitz: Die Reform hält den Weg der weiteren Ausgestaltung des Gesundheitssystems nach beiden Seiten offen. Die soziale Variante einer Bürgersicherung ist mit dem Gesundheitsfonds – theoretisch – immer noch ebenso möglich wie der neoliberale Umbau. In letztere Richtung weisen z.B. auch die Forderungen der Ärzteorganisationen nach „Direktabrechnung“. Das bedeutet, dass der Patient den Arzt erst bezahlen und sich die Kosten nachher von seiner Krankenkasse zurückerstatten lassen soll. Selbst wenn er den vollen Betrag erstattet bekommt, wäre eine solche Regelung mit einer hohen Belastung für Menschen mit geringen Einkommen verbunden.

Das heißt, mit der Reform ist noch nicht entschieden, in welche Richtung sich unser Gesundheitssystem weiter entwickelt?

Nadja Rakowitz: Mit dieser Reform noch nicht. Man muss dennoch sehen, dass die Zeichen klar auf marktwirtschaftlichen Umbau weisen. Die Änderungen der letzten Tage machen das noch einmal deutlich. Nach wie vor zeichnet sich ab, dass in Zukunft alle Kostensteigerungen über die „kleine Kopfpauschale“, also den Zusatzbeitrag, den die Versicherten entrichten werden müssen, abgewickelt werden. Auch die am 1. Januar 2007 ohne größere öffentliche Beachtung in Kraft getretene Änderung des Vertragsarztrechts für niedergelassene Ärzte ist ein Türöffner für einen weiteren neoliberalen Umbau des Gesundheitssystems. Damit wird es nämlich möglich, dass Praxen in Filialen von großen Gesundheitskonzernen umgewandelt werden. Dadurch wird der Konkurrenzdruck unter den niedergelassenen Ärzten verschärft. Zugleich ermöglicht diese Regelung allerdings auch großflächig Polikliniken einzurichten – heute heißt das MVZ (Medizinische VersorgungsZentren) –, was die demokratischen Ärzte immer gefordert haben. Diese Polikliniken werden dann aber unter dem Diktat kapitalistischer Konzerne stehen. So hatten sich das die Demokraten natürlich nicht vorgestellt.

Wie reagieren die traditionellen Ärzteverbände darauf

Nadja Rakowitz: Gegen diese Entwicklung wehren sich auch konservative Ärzte- und Apothekerorganisationen; sie tun das aber nicht aus Interesse an einer sozialeren Ausgestaltung des Gesundheitswesens. Hier gibt es an bestimmten Punkten einen Konflikt zwischen den noch weitgehend zunftmäßigen organisierten alten Strukturen und den neuen neoliberalen Umgestaltern. Als demokratische Ärzteorganisation hat der Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzten die alten Strukturen der Ärzteverbände immer kritisiert – und das zurecht. Diese Kritik wird heute nicht deshalb falsch, weil diese alten Strukturen jetzt durch die neoliberale Umgestaltung bedroht werden. Wir müssen uns gegen beides wenden und weiterhin die kaum gestellten Fragen stellen. So oder so muss die Anbieterdominanz, also der Einfluss der Pharma- und Medizingeräteindustrie auf das Gesundheitswesen, aber auch die größtenteils bloß betriebswirtschaftlichen Interessen der Ärzte kritisiert werden.

Wie reagieren die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigen des Gesundheitssystems auf diese Entwicklung?

Nadja Rakowitz: Ich habe den Eindruck, dass sie größtenteils durch die Tarifauseinandersetzungen so ausgelastet sind, dass sie selten Zeit für eine generelle Kritik an der Entwicklung haben. Dazu kommen die Auswirkungen der Privatisierung des Gesundheitswesens, der Umwandlung von Krankenhäusern in GmbHs, was mit der Aufspaltung der Belegschaften verbunden ist und die Interessenvertretung erschwert. Bei den Ärzten kommt noch die – vorerst erfolgreiche – Spaltungspolitik des Marburger Bunds gegenüber ver.di dazu.