Sigmar Gabriel: Europa soll machtpolitisch zum Flexitarier werden

Gabriel auf einer früheren Bühne als deutscher Außenminister zu Besuch beim ehemaligen US-Außenminister Tillerson, Februar 2017. Bild: US-Außenministerium/gemeinfrei

Der frühere SPD-Chef und Außenminister ist als Vorstandschef der Atlantik-Brücke vorgesehen

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Der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel soll heute als Kandidat für den Vorstand der Atlantik-Brücke vorgeschlagen werden. Er löst Friedrich Merz (CDU) ab. Endgültig entschieden wird darüber erst bei der Mitgliederversammlung Ende Juni, aber die Personalie steht so gut wie fest.

Heißt das, dass Gabriel jetzt ein "Austragsstüberl" gefunden hat oder ist das eine Zwischenstation? Sein Vorgänger Merz ist wieder im Gespräch über Ministerposten, was manchen Unionsfunktionären auf die Nerven geht. Auch Gabriel, der mit 59 Jahren im "besten Politikeralter" ist und seinen Posten als Außenminister auf Geheiß seiner Partei und nicht unbedingt freiwillig abgetreten hat, wird einigen in seiner Partei auf die Nerven gehen, weil er sich weiter aus dem Hintergrund einmischt und damit auf die Probe stellt, wie sich das Machtgefüge in der Partei durcheinander bringen lässt.

Der Machtmensch auf der Atlantik-Brücke

Zuletzt machte er mit Breitseiten gegen den Juso-Vorsitzenden Kühnert auf seine Präsenz im Hintergrund aufmerksam, was vom Boulevard begeistert aufgenommen wurde. Das hat nicht nur öffentlich Wirkung, sondern besonders in der SPD, wo Gabriel seinen Machtwillen früher damit demonstrierte, dass Steinbrück, Steinmeier und Schulz im politischen Abseits verschwanden.

Was wird der Machtmensch aus dem Chefposten in der Atlantik-Brücke machen? Der Think Tank war ja vor ein paar Jahren noch Gegenstand größerer Debatten über das heimliche Wirken der Elite, bei der Alpha-Journalisten eingebunden waren. Selbst die zurückhaltende Kritik mahnte damals an, dass sie an der Fabrikation eines Konsens mitwirkten, der als "eng umgrenzte Zone des Denkbaren" beschrieben wurde, weshalb die "außenpolitische Debatte hierzulande zuweilen einen merkwürdigen amerikanischen Akzent" hatte.1

Die Zeiten haben sich seither geändert. Seit in den USA Trump Präsident ist und mit America first" ganz eigene Akzente setzt, ist auch der Einfluss der Atlantik-Brücke nicht mehr der gleiche. "Amerika wird nicht mehr so sein, wie es mal war", sagt Gabriel gegenüber Gabor Steingart, dem er Konturen und Ideen zur Grundausrichtung der Atlantik-Brücke vorstellt. Steingart, der früher beim Spiegel gearbeitet und dann das Handelsblatt neu aufgestellt hat, rückt wie ein geschickter Conferencier den Ex-SPD-Chef und seine neue Aufgabe ins beste Bühnenlicht: "Die Zeitenwende in den transatlantischen Beziehungen hat ein Gesicht - und zwar das von Sigmar Gabriel."

Das große Thema von Gabriel im Gespräch ist die Europäisierung der Atlantik-Brücke, wobei er nicht so weit geht, dies dahingehend zu präzisieren, welche Rolle die Beziehung zu Frankreich darin spielen könnte, was unter Atlantikern nach der Zäsur durch Trump ein wichtiges Diskussionsthema war. Gabriel bleibt auf Grundlinien, die nicht durch Schwierigkeiten in Details gekrümmt werden sollen. Er schaut auf die großen Horizonte und liefert, wenn er sich auf Einzelfälle einlässt, verstörende Ideen.

So zum Beispiel zu Libyen. Gabriels Postulat heißt, unter der Präsidentschaft Trumps ist der Blick noch stärker auf den pazifischen Raum ausgerichtet, die Konkurrenz der G2-Staaten China und USA ist ein sich politisch aufdrängender Auftrag der EU, sich um die eigene Nachbarschaft zu kümmern. "Europa hat nun mehr Verantwortung", sagt Gabriel öfter. Es müsse manches nun selbst regeln. Im Fall Libyen fällt ihm nun tatsächlich auch Frankreich ein, als Partner einer militärischen Operation, die Schluss macht mit den Internierungslagern, in die Migranten eingesperrt werden, wo sie Brutalitäten ausgeliefert sind.

Muskeln zeigen

Nun ist das als emotionale Äußerung nachvollziehbar, politisch kann eine solche Aktion aber die dümmsten, nicht gewünschten Folgen haben. Das trifft wahrscheinlich auch auf Aussagen zu, die Gabriel jüngst in Schweden zum Besten gab, wo er als Idee für die Übernahme der US-Verantwortung dafür plädierte, nicht die deutschen Militärausgaben zu erhöhen, sondern stattdessen in einen "speziellen Fonds zum 'Schutz der baltischen Länder und Polens vor Russland' zu investieren".

Auch seine Idee, den Euro als Weltwährung auf eine Stufe mit dem Dollar zu bringen, ist realpolitisch bis auf weiteres nicht durchsetzbar, wegen der Kollektivgarantien, gegen die es viele Einwände gibt, wie Gabriel selbst einräumt, er bringt das Beispiel, um sein Credo von der höheren Verantwortung, die Europa nun übernehmen müsse, zu bestärken.

Gabriel nutzt die konzeptionelle Freiheit, die ihm die Distanz zur Realpolitik einräumt - die er Kühnert anderseits nicht zugestehen will, weil sie gegen Interessen einer bestimmten Klientel verstößt - in vollen Zügen. So fallen ihm zu den großen Horizonten, die er bewandert, auch bissige Formulierungen ein, die ihm sicher Beifall eintragen:

Weltpolitisch wird Europa schon jetzt als Vegetarier wahrgenommen in einer Welt voller Fleischfresser. Wenn die Briten gehen, dann glaubt die Welt, wir sind Veganer. Ich will nicht, dass wir Fleischfresser werden, aber wir werden sowas wie Flexitarier werden müssen.

Sigmar Gabriel

Muskeln zeigen, heißt das: "Ein Flexitarier ist jemand, der sich seiner Macht bewusst ist und auch bereit ist, sie im Zweifel einzusetzen."

Europa dürfe den Moment nicht verpassen. Die Handelsachsen hätten sich verschoben und damit auch die politische Situation. Das bedeute, dass "Raushalten nicht geht", man müsse neue Verabredungen treffen, weil die "Welt so oder so zu uns kommt", wie sich das auch durch Migrationsbewegungen gezeigt habe.

Trump hält er zugute, dass seine Kritik an Chinas Handelspolitik wichtige Punkte treffe. Daran, so lässt Gabriel verstehen, könne man anknüpfen. Er lässt deutlich durchblicken, dass er auf eine andere Führung der USA hofft und empfiehlt, dass Europa nun auf eine "strategische Souveränität" baut, im Gegensatz zu einer "autonomen Souveränität", deren Anspruch nicht zu erfüllen ist. Welche Art von Partner die USA künftig dabei sein sollen, weiterhin doch der große Bruder?, wie die US-Partner im Netzwerk der Atlantik-Brücke mitmachen, das bleibt offen.