Sippenhaft mit genetischem Fingerabdruck

Auch über das Gen-Profil von nahen Verwandten lassen sich in Gen-Datenbanken Verdächtige finden, wenn Gen-Proben am Tatort gefunden wurden

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Vaterschaftstests sind bekannt. Mit ihnen lässt sich nachweisen, ob ein Mann tatsächlich Vater eines Kinds ist. Mit dem Abgleich von Gen-Profilen von Verwandten lassen sich beispielsweise auch Opfer von Katastrophen identifizieren. Und natürlich lassen sich solche Identifizierungen auch anderes machen. Beispielsweise kann man über Gen-Profile von Verwandten auch einen Verdächtigen identifizieren, von dem man Spuren an einem Tatort gefunden hat. Je größer eine Gen-Datenbank ist, desto eher würde man dann auch Verdächtige finden (Genetische Sippenhaft).

Was für die Strafverfolgung natürlich eine attraktive Möglichkeit ist, die Zahl der Verdächtigen zumindest einzuengen, könnte sich auch zu einer neuen Form der Sippenhaft entwickeln. Die DNA-Profile von nahen Verwandten sind sich ähnlich. Wenn die Polizei aus irgendeinem Grund den genetischen Fingerabdruck von einer Person in der Datenbank hat und dieser mit einem an einem Tatort gefundenen große Ähnlichkeit hat, dann bräuchte man nur noch in der Familie nach möglichen Tätern suchen.

Wie US-Wissenschaftler in einem Science-Artikel schreiben, war dies beispielsweise in einem Fall so, als britische Polizisten im Jahr 2000 Blutspuren in der Wohnung eines Opfers fanden, das bereits 1988 ermordet wurde. Aus dem Blut ließ sich ein Genprofil herstellen, das die Polizisten über die Gen-Datenbank zum Vergleich laufen ließen und dabei herausfanden, dass es mit dem genetischen Fingerabdruck eines 14-jährigen Jungen ähnlich war, das die Polizei gemacht hatte, weil dieser eine Straftat begangen hatte. Die Polizei überprüfte dann die Familie des Jungen und stieß auf dessen Onkel, dessen Genprofil exakt mit der gefundenen Probe übereinstimmte. Aufgrund des genetischen Finderabdrucks wurde der Mann verurteilt. Das kann selbstverständlich auch dazu führen, dass ein zunächst Verdächtiger entlastet und ein neuer Täter gefunden wird.

In Großbritannien, das sich mittlerweile die größte Gen-Datenbank aufgebaut und dementsprechend lockere Gesetze hat (Großbritannien hat die größte Gendatenbank der Welt), wurde diese Identifizierung von Tätern durch den Abgleich der Gen-Profile von Verwandten schon öfter angeblich mit Erfolg durchgeführt.

Der Erfolg dieser Analysen basiert aber auf bestimmten Annahmen. Zentral ist die – allerdings auch empirisch gestützte – Annahme, dass in Familien, in denen ein Mitglied eine Haftstrafe verbüßt, die Wahrscheinlichkeit höher als gewöhnlich ist, dass auch ein naher Verwandter zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird oder wurde. Da in den meisten Fällen Gen-Profile von allen zu Gefängnisstrafen verurteilten Menschen genommen werden, würde, so die Wissenschaftler, die Zahl der Treffer (Cold hit) um mindestens 40 Prozent steigen, wenn die Polizei die Familienmitglieder von denjenigen untersuchen würde, bei denen eine hohe Ähnlichkeit mit einem Gen-Profil vom Tatort festgestellt wurde. In den USA sind mittlerweile von drei Millionen verurteilten Straftätern die Gen-Profile in der Datenbank gespeichert.

Die Wissenschaftler haben mit Computerexperimenten untersucht, wie erfolgreich solche Suchen nach Verwandtschaftsverbindungen sind. Die Suche ist offenbar effektiv. Aber das Finden von Proben an einem Tatort, aus denen Gen-Profile hergestellt werden können, bedeutet keineswegs schon, dass es sich bei den Treffern auch wirklich um den Täter handelt. Täter könnten bewusst Proben von anderen hinterlassen, um den Verdacht von sich abzulenken, Personen können zufällig an einem Ort gewesen sein. Auf jeden Fall können mit der Verwandtschaftsanalyse noch mehr Unschuldige in Verdacht geraten, vor allem aber Menschen aus Gruppen, deren Mitglieder in höherem Maße verurteilt wurden, so dass sich ihre Gen-Profile auch in erhöhtem Maße in der Datenbank befinden.

Wenn man nicht eine umfassende nationale Datenbank aller Bürger anlegt, um bei den zufälligen Treffern für „Gerechtigkeit“ zu sorgen, würden die Treffer eher auf „Afroamerikaner, Latinos und Menschen mit geringen Einkommen“ gehen, sagt etwa Mit-Autor David Lazer. Familien, deren Mitglieder bislang straffrei geblieben sind, was ja keineswegs heißen muss, dass sie keine Straftaten begangen haben, würden von den erweiterten Suchmöglichkeiten verschont bleiben.

Aber der Verwandtschaftsabgleich stellt auch andere Fragen als die der Sippenhaft. Wenn jemand wegen einer Straftat verurteilt wird und eine Gen-Probe abgeben muss, schließt dies auch automatisch das Recht für die Polizei ein, aufgrund dieses Profils alle nahen Verwandten einbeziehen zu können? Dürfen also solche Gen-Profil-Netze ausgeworfen werden? Die Wissenschaftler enthalten sich einer konzisen Stellungnahme. So sagt Lazer, dass es zwar nicht richtig sein könne, eine „ganze Klasse von Menschen, die niemals verurteilt, festgenommen oder eines Verbrechens verdächtigt wurde, unter eine lebenslange genetische Überwachung zu stellen“. Andererseits sei es auch moralisch verwerflich, etwa einen Mörder nicht zu ergreifen, wenn man dazu nur „einen Knopf drücken muss, um den Suchalgorithmus zu aktivieren“.

Das ist zweifellos ein moralisches Dilemma, das aber gleichzeitig die Frage enthält, ob man alles machen muss, was man kann? Würde man die Verwandtschaftsanalyse als forensische Identifizierung zulassen wollen, müsste man sowohl aus Gründen der Effektivität als auch der Gerechtigkeit eine Gen-Datenbank von allen Bürgern anlegen müssen, die von Geburt an ihr Gen-Profil preisgeben müssten. Damit würden sie nicht nur, wie dies auch bei der Vorratsspeicherung von Verbindungsdaten der Falle ist, zu potenziell Verdächtigen. Solche Datenbanken wären auch das Paradies von totalitären Regimen. Und wer garantiert eigentlich, dass unsere noch halbwegs funktionierenden demokratischen Rechtssysteme dies auch in absehbarer Zeit bleiben werden? Die Geschichte jedenfalls nicht, zumindest nicht die deutsche.