Sourcenapping

Eine Kurzgeschichte

Uchenna jubelte. Wie immer, wenn er wieder einen wichtigen Schritt vorangekommen war. Dieses Mal war es ein Wagnis. Er hatte sich von einigen seiner ursprünglichen Ideen gelöst, die Rückmeldungen intensiv gesichtet, die Anforderungen und Wünsche des Marktes genauer geprüft. Dann entschied er sich, tiefgreifende Änderungen vorzunehmen.

Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Das Major-Release warf einige der Maximen und Prinzipien, mit denen er das Projekt ursprünglich gestartet hatte, über den Haufen. Ein gutes halbes Jahr hatten sie die Beta-Phase laufen lassen. Alles lief stabil und zuverlässig, stellte sich als elegant und flexibel heraus.

Vor vier Jahren hätte sich Uchenna nicht denken können, einmal an einem solchen Punkt zu stehen. Aus einer Laune heraus hatte er ein neues Framework zur UI-Entwicklung aus dem Boden gestampft.

Nicht, weil die anderen Lösungen ihm nicht gefallen hätten. Im Gegenteil. Bei allen gefiel ihm einiges sehr gut, nur weniges nicht. Er wollte einfach versuchen, die vielen sehr guten Eigenschaften in einer Lösung zu kombinieren.

Andere hätten sein Projekt als Fingerübung bezeichnet. Für ihn selbst aber war es der Einstieg in ein komplett neues Leben. Innerhalb kürzester Zeit hatte sein Open-Source-Projekt viel positives Feedback eingesammelt und Aufmerksamkeit erregt. Wenige Monate später führte er Interviews, veröffentlichte Artikel, präsentierten Enthusiasten das Framework auf Konferenzen. Mit der Konsequenz, dass das Framework bekannter und beliebter wurde.

Die positive Resonanz führte dazu, dass die Weiterentwicklung seines Frameworks zunehmend mehr seiner freien Zeit in Anspruch nahm. Tag und Nacht arbeitete er daran. Idealismus und Spaß waren der Antrieb. Die Einnahmen aus Veröffentlichungen, die Spenden aus der Open-Source-Community und die Unterstützung durch verschiedene Firmen entwickelten sich eher beiläufig zu einer stabilen Einnahmequelle.

Die Einnahmen reichten trotzdem aus, sowohl ihm als auch seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen als jemals zuvor. Sie mussten am Monatsende nicht mehr ausrechnen, wie viel ihnen noch zum Leben blieb.

Er und seine Frau mussten nicht mehr auf Essen verzichten, damit die Kinder genügend hatten. Sie mussten bei Lebensmitteln nicht mehr jedes einzelne Angebot nutzen. Sie konnten sich sogar etwas gönnen. Uchenna gab seinen Job als Lagerarbeiter auf, deckte den Lebensunterhalt durch die Weiterentwicklung des Frameworks. Jedes größere Release bedeutete: neue Artikel, neue Vorträge, neue Spenden, neue Bücher – mehr Einnahmen.

Also gewöhnte er sich an, regelmäßig neue Versionen zu veröffentlichen. Auch das neue Release würde wieder einen kräftigen Schub nach vorne bedeuten. Ein Großteil aller Anwendungen und Apps, die heute auf den unterschiedlichen Plattformen zum Einsatz kamen, nutzten sein Framework.

Die ausgiebige Beta-Phase hatte bereits eine extrem hohe Adaptionsrate bewiesen. Die Ingenieure konnten Anwendungen noch schneller entwickeln, die Kompilierungszeiten waren deutlich gesunken, die Ausführungsgeschwindigkeit verdoppelte sich und gleichzeitig sank der Rechenaufwand. Das alles bedeutete effizientere Lösungen und sinkende Kosten. Sowohl für die Unternehmen als auch die Anwender.

Noch knapp eine Stunde verblieb. Das war der Zeitpunkt, den er für das neue Release festgelegt hatte. Es war nicht irgendein Zeitpunkt. Exakt drei Jahre zuvor hatte er das erste Major-Release herausgebracht. Das Release, mit dem sein Aufstieg vom Lagerarbeiter zum gefeierten Software-Entwickler begann.

Er war so stolz darauf, dass er es sich nicht nehmen lassen konnte, ausgerechnet diesen Termin zu wählen. Und er hatte sich Ruhe verschafft. Er wollte für sich sein, die Veröffentlichung durchziehen, Download-Statistiken verfolgen und dann am nächsten Tag feiern.

Schon bei der Erstveröffentlichung war er für sich gewesen. Damals, weit nach Mitternacht, im Dunkeln sitzend, Musik hörend, annehmend, dass niemand sich für sein Projekt interessieren würde. Weil es aber wider Erwarten so gut lief, gönnte er sich nun diesen kleinen Aberglauben und wiederholte die Umstände von damals – nur um auf Nummer sicher zu gehen.

Uchenna tauchte in die Blasen des Internets ab, las Meinungen und Kommentare zum anstehenden Release, las begeistert, was die Community, was die Welt schrieb. Er genoss diese Anerkennung.

Er war so vertieft, dass er gar nicht mitbekam, was in seinem Haus geschah. Das Schloss der Haustür klickte leise. Dann schwang sie langsam und geräuschlos auf. Zwei dunkel gekleidete Gestalten traten ein und achteten darauf, die Tür vorsichtig wieder zu verriegeln. Sie prüften die Räume im unteren Stockwerk. Auch über die Rückseite des Hauses näherten sich zwei Personen. Am Treppenabsatz im Hausflur trafen sie aufeinander.

Schweigend bedeuteten sie sich, nach oben zu gehen. Auf den mit Teppich verkleideten Steinstufen waren ihre zügigen Schritte nicht zu vernehmen. Und selbst wenn: Uchenna hätte aufgrund der lauten, hämmernden Musik ohnehin nicht mitbekommen, was im Haus geschah. Die Besucher traten ins Zimmer und postierten sich hinter Uchenna. Eine Hand legte sich auf seine Schulter.

Uchenna zuckte zusammen. Adrenalin schoss durch seinen Körper, steigerte seine Pulsfrequenz, dröhnende Herzschläge und einen Impuls zur Flucht aus. Er wirbelte herum und duckte sich leicht weg. Der nächtliche, unerwartete Besuch hatte sich vor im aufgebaut.

Es dauerte einen Augenblick, bis sich seine Panik wieder legte. "Okay, Jungs, super Aktion. Glückwunsch", stieß Uchenna hervor. "Ihr habt es geschafft, mir einen gehörigen Schrecken einzujagen".

Dann atmete er einmal tief durch, lachte erleichtert: "Man, ich hätte mir beinahe in die Hose gemacht."

Uchenna betrachtete dann nacheinander die vier Personen, versuchte, sich weiter zu beruhigen. "Wem von Euch habe ich das zu verdanken? Jonathan? Das war doch garantiert Deine Idee? Oder Du, Chuckie?", riet Uchenna.

Keine Reaktion.

"Eigentlich auch scheiß egal. Ihr wisst, dass ich mich dafür rächen werde. Ihr werdet leiden", drohte er wenig überzeugend. "Aber jetzt zieht bitte wieder ab."

Uchenna wollte sich gerade umdrehen. Aber die Hand auf seiner Schulter hinderte ihn mit überraschend festem Griff daran.

"Okay, ja, ich hab’s verstanden. Witzig. Haha. Nun lass‘ mich los", forderte Uchenna. Beim Versuch, sich aus dem Griff zu lösen, scheiterte er erneut. Stattdessen intensivierte die Gestalt ihren Griff und eine weitere Hand legte sich auf seine andere Schulter.

Die Situation wurde unangenehm. "Das ist jetzt nicht mehr witzig", ärgerte sich Uchenna. Im Dunkeln konnte er die Gesichter noch immer nicht erkennen. "Johnny? Chuckie? Tom?", fragte Uchenna.

Keine Reaktion. "Lasst mich in Ruhe, Jungs. Wir können nachher weiterspielen. Ich habe jetzt wirklich Wichtigeres zu tun." Erst jetzt stellte Uchenna fest, dass die vier dunkel gekleideten Gestalten ihre Gesicht hinter Masken verbargen.

Dieses Mal gab es eine Reaktion. "Sie missverstehen ihre Lage. Aber das ist nur allzu verständlich", sprach jemand. Uchenna meinte, dass die Stimme zu der hintersten Person gehören musste. Er konnte die Stimme nicht erkennen. Misstrauen stieg in ihm auf. "Wer bist Du? Was wollt Ihr?"

"Das sind zwei durchaus berechtigte Fragen", vernahm er als Erwiderung. "Ihre erste Frage werde ich nicht beantworten. Das würde uns nicht weiterbringen. Frage zwei ist hingegen schnell beantwortet."

"Willst Du mich verarschen?" Uchennas Misstrauen wich jetzt Angst. Denn die Stimme klang fest und bedrohlich. Sie ließ keinerlei Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Aussagen zu. Er sah sich um, in der Hoffnung, irgendeine Möglichkeit zu entdecken, aus dieser Situation zu entkommen.

"Hören sie mir aufmerksam zu und lassen Sie mich zunächst zwei Dinge klarstellen. Erstens: Reden Sie nur, wenn ich sie auffordere. Zweitens: Verzichten sie auf Fluchtversuche. Sie würden nur unangenehme Konsequenzen provozieren."

"Ist klar, Du Komiker, …", setzte Uchenna an. Die Konsequenz kam prompt. Einem Hieb mit der Faust in die Magengrube folgte eine schmerzhafte Ohrfeige mit dem Handrücken. Uchenna krümmte sich und rang nach Luft.

"Wie gesagt, nur nach Aufforderung reden." Die Stimme klang eisiger als zuvor.

"Es ist natürlich verständlich, dass sie etwas unternehmen wollen. Menschlicher Instinkt." Die Stimme seufzte. "Aber seien sie sicher: Jeder weitere Versuch, fliehen zu wollen oder unsere Absichten in Frage zu stellen, wird mit immer härteren Maßnahmen beantwortet."

Uchenna verstand. Er ließ den Widerstand ein wenig fallen, ergab sich vorerst seinem Schicksal. "Was … wollen Sie?"

"Ach, richtig, auf diese Frage versprach ich Ihnen ja eine Antwort." Die Stimme gab ein Handzeichen. Die beiden Gestalten neben Uchenna griffen ihn, hoben ihn vom Stuhl. Dann setzte sich die Gestalt mir der eisigen Stimme auf seinen Stuhl und wand sich dem Rechner zu. Uchenna war genervt. Niemand durfte sich auf seinen Stuhl setzen, an seinem Computer rumfummeln.

Die Stimme ließ die Finger über die Tastatur gleiten. "Ich werde ein paar kleinere Änderungen an Ihrem Code vornehmen", erläuterte sie beiläufig. "Nichts Besonderes. Es wird auch nicht auffallen."

"Alter, dafür hätte doch eine Anfrage im Repository gereicht", spie Uchenna genervt aus. "Kein Grund, diesen Aufwand zu betreiben, mich so zu erschrecken und zu nerven." Wieder ein Handzeichen von der Stimme, dem prompt ein Schlag in die Magengrube folgte. Uchenna krampfte, sank auf die Knie und hätte sich beinahe übergeben.

"Nicht reden." Die Stimme artikulierte beide Wörter übermäßig deutlich. "Und nein, diese Code-Änderung hätten sie garantiert nicht akzeptiert. Schon gar nicht veröffentlicht", sprach die Stimme belustigt.

"Sind sie neidisch? Wollen Sie mein Projekt schädigen?" Uchenna war vollkommen ratlos. Noch immer rang er nach Luft – sprechen war schwierig.

"Nun, diese Code-Änderung platziert eine kleine feine Hintertür in Ihrem Framework. Sie ist nicht besonders ausgefeilt, fast schon banal. Absichtlich. Je unauffälliger, desto eher verschwindet sie im restlichen Quelltext. Aber sie ist effizient."

Uchenna verfolgte die Änderungen am Code. Ungewöhnliches fiel ihm tatsächlich nicht auf. Er hätte den Code genauer studieren und analysieren müssen, um seine Funktionsweise zu verstehen.

Die Stimme schien fertig zu sein. Denn sie hob die Hände. "Für alle anderen wird die Code-Änderung wie ein kleiner Bugfix kurz vor dem Release wirken", fügte sie an. Dann drehte sich der Unbekannte auf dem Stuhl herum. "Und jetzt muss ich sie noch bitten, die Code-Änderung freizugeben."

"Hah … den Teufel werde …", setzte Uchenna an. Aber das brachte ihm abermals eine physische Reaktion ein. Dieses Mal landete die Faust in seinem Gesicht. Uchenna taumelte ganz kurz. Er schmeckte Blut in seinem Mund, Tränen schossen unwillkürlich in seine Augen, seine linke Gesichtshälfte pochte heftig und er benötigte einen Augenblick, um sich wieder zu orientieren.

"Ich dachte, wir hätten klargestellt, wie es laufen würde." Die Stimme klang enttäuscht. "Sie werden nun Ihr Smartphone greifen und die Code-Änderung mit dem zweiten Authentifizierungsfaktor bestätigen."

"Und wenn ich mich weigere?"

"Dann werde ich meine Mitarbeiter anweisen, Ihnen weitere Kostproben körperlicher Überlegenheit zu präsentieren." Kälte. Absolute Kälte schwang in der Stimme mit.

Uchenna überlegte, welche Möglichkeiten er hatte. Konnte er die Gelegenheit zur Flucht nutzen? Sie müssten ihn loslassen, wenn er sein Smartphone entsperren und den Code heraussuchen sollte. "Okay", sagte Uchenna.

Die dritte Gestalt griff Uchennas Smartphone und hielt es ihm hin.

"Darf ich bitten?", guckte Uchenna zur Person rechts von ihm und bedeutete, dass sie seinen Arm aus dem Griff entlassen sollte.

"Nein, Ihre Hände benötigen Sie dazu nicht." Der Unbekannt wirkte belustigt. Stattdessen hielt die dritte Gestalt ihm das Smartphone vor das Gesicht. Uchenna versuchte noch, sich wegzudrehen.

Natürlich hatte er es sich Uchenna bequem gemacht, die Freigabe des Geräts per Gesichtserkennung aktiviert. Nun fixierten die Männer sein Gesicht. Das Smartphone plingte, dann gab es die Sperre frei. "Diese Infrarotsensoren in den heutigen Smartphones nehmen leider auch Körperwärme und kleinste Regungen der Gesichtsmuskulatur wahr", erklärte der Unbekannte. "Außerdem war ich mich nicht vollständig sicher, ob sie tatsächlich auf biometrische Freischaltung gesetzt haben oder nicht."

Der Unbekannte nahm das entsperrte Smartphone entgegen. Er arbeitete sich durch die Menüs. Uchenna konnte sehen, was er anstellte. Zunächst deaktivierte er Kennwortanfragen, löschte die biometrischen Zugangsdaten und ließ alles nochmal durch einen Scan von Uchennas Gesicht verifizieren.

"Hervorragend", entwich es dem Unbekannten. "Das läuft doch sehr gut." Er wand sich dem Rechner zu. Dieser forderte ihn auf, eine sechsstellige Ziffer zur Freigabe einzugeben. Und das entsperrte Smartphone lieferte diesen zeitlich wechselnden Code.

Nach Eingabe der Zahlen war das neue Major-Release mit den unerwünschten Code-Änderungen auf dem Weg. Es würde wenige Minuten dauern, ehe es sich verbreitet hatte.

Der Rest der Welt war nun am frühen Morgen oder späten Abend tätig, nicht tief in der Nacht wie Uchenna. Im Trubel würde kaum jemand den kurzfristig veränderten Code inspizieren. Dafür aber würde sich die Hintertür in Millionen verschiedenen Anwendungen einnisten. Genügend Gelegenheit, dort weiteren Code einzuschleusen.

Uchenna wand sich innerlich. Es ärgerte ihn, was gerade passierte. Er wollte dieser Situation nur noch entkommen, endlich einen Schlussstrich ziehen und die Code-Änderungen korrigieren. Der Typ fuschte an seinem Baby herum und er konnte sich nicht vorstellen, was das für ihn selbst bedeuten würde. Ein ungutes Gefühl machte sich breit. "Haut jetzt ab", forderte Uchenna auf.

Der Unbekannte prüfte noch ein paar Informationen, die über den Bildschirm rollten. Uchenna konnte die Statistiken sehen, den sprunghaft steigenden Download-Zahlen. "Ausgezeichnet", lautete der Kommentar des Unbekannten. Dann drehte sie sich wieder zu Uchenna um. Uchenna hoffte, sein Martyrium hätte nun ein Ende.

"Ich vermute, sie werden, sobald wir Ihr Haus verlassen haben, alle Änderungen zurückrollen wollen. Sie verstehen sicherlich, dass ich das nicht zulassen kann."

Eine Art schonungsloser Gewissheit machte sich in Uchenna breit. Wieder schoss Adrenalin durch seinen Körper, wieder überkam ihn die Panik, wieder wollte er fliehen. Dann spürte er nur noch kaltes Metall am Hals.