Staatsaffäre Fußball?

Die schönste Nebensache der Welt gerät erneut in die Mühlen der Politik. Dabei geht es doch nur um einen Haufen eitler, charakterschwacher, undisziplinierter und zur Egomanie neigender Jungmillionäre

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Ist Fußball ein "Integrationsmotor" allerhöchster Güte? Fast könnte man dazu neigen, wenn man die rührig-rührenden Lobeshymnen auf das junge deutsche Team hört oder liest, die Tageszeitungen, Journalisten oder Offizielle derzeit verbreiten.

Elf von den in Südafrika versammelten deutschen 23 Elitekickern haben nämlich mehr oder minder einen Migrationshintergrund, wie man heute politisch korrekt so sagt. Damit bildet das Nationalteam ein Spiegelbild besonders der jüngeren deutschen Gesellschaft. So wenigstens der Glaube und der Wille aller Wohlmeinenden im Lande.

Ausdrücklich hervorgehoben wird dabei der Kreativspieler und "Sprintzehner" (SZ) Mesut Özil. Er ist der bislang ungekrönte Star und Held der deutschen Elf. Und das nicht nur wegen seines entscheidenden Tores gegen die "Black Stars". Gelobt wird jetzt auch und vor allem, dass er bereits "Ja zur Nationalmannschaft" gesagt hat, als das für einen türkischstämmigen Mann alles andere als selbstverständlich war.

Vergessen wird dagegen, dass Özil auch jener Spieler ist, der schon vor drei Jahren - und das noch als Achtzehnjähriger bei seinem Heimatverein Schalke 04 - um einen Millionenvertrag pokerte, den der Verein in dieser Höhe nicht akzeptieren wollte. Diese Raffke-Mentalität brachte ihm seinerzeit in Gelsenkirchen und Umgebung den Spitznamen "Schnözil" ein. Als er dem Verein zwar seinen Handschlag gab, nicht aber seine Unterschrift, erklärte Andreas Müller, der damalige Manager der Königsblauen, frustriert über das Gebaren des Jungstars, dass der Spieler fortan kein Spiel mehr für den Verein machen würde.

Diese Haltung scheint in Bremen, wohin der Spieler nach seiner Demissionierung floh, nun seine Fortsetzung zu erfahren (Özil spielt mit Bremen wie damals mit Schalke). Auch hier geht es wieder um einen neuen Vertrag und mithin um eine Menge Geld. Und erneut wird er dabei zu einer "Reizfigur", die bisweilen durch konstant "schlechte Leistungen" und "provokanten Vertragspoker" mit negativen Schlagzeilen auf sich aufmerksam macht (Die neue Reizfigur).

Das ist Frankreich

Vergessen sollte man bei all dem überschwänglichen Migranten-Jubel (Multikulturelles Team führt Deutschland zum Erfolg jedoch auch nicht, dass man das vor zwölf Jahren schon mal so oder so ähnlich jenseits des Rheins, und zwar bei unseren französischen Freunden und Nachbarn, vernommen hat. Damals hatte die Equipe Tricolore gerade zum ersten Mal in ihrer Geschichte den WM-Titel gewonnen. Auch damals ergossen sich Arien des Jubels über "Les Bleus".

Selbst Jacques Chirac, von dem nicht gerade bekannt war, dass er sich für Fußball sonderlich interessierte, empfing Zidane, Barthez, Thuram und Co. im Elysée-Palast, und zwar nicht bloß als Sieger, sondern auch als Repräsentanten und Spiegelbild des modernen Frankreich. Von allen Seiten wurde die Truppe als "Schmelztiegel der Rassen und Kulturen" gefeiert.

Fortan sprachen die Kommentatoren nur noch in ehrfurchtsvollen Worten von der Equipe "black-blanc-beur", der schwarz-weiß-arabischen Mannschaft. Vor allem in ihrem Anführer, dem genialen Taktgeber Zinedine Zidane, Spross algerischer Einwanderer und in einem Armenviertel am Stadtrand von Marseille zur Welt gekommen, verdichtete sich der Traum der Grand Nation vom weltoffenen, liberalen und multikulturellen Land.

Augen verschlossen

Dass währenddessen oder kurz danach in den Banlieues weiter Autos brannten, Vandalismus und Krawall herrschten und Polizisten gleichzeitig herumprügelten und sich ihrer Haut erwehren mussten, war für Presse und Politik kein Thema mehr. Zu selbstvergessen und selbstbesoffen war das Land, zumal das nahezu unveränderte Team zwei Jahre danach in Holland und Belgien auch noch den Europameistertitel gewann.

Doch schon bei der darauffolgenden WM in Südkorea und Japan wirkte die Equipe Tricolore seltsam lustlos, müde, satt und ausgebrannt. Zu Recht musste man alsbald und blamiert den Heimflug antreten. Als Warnzeichen wollte das aber noch niemand werten. Auch dann nicht, als der vergötterte Zidane in der Verlängerung des Finales gegen Italien seinen Gegenspieler Materazzi mit einem gezielten Kopfstoß niederstreckte und seinem Team damit jede Chance auf den Sieg nahm. Schließlich war man doch Vizeweltmeister geworden.

In der Realität angekommen

Seit der Spieler Nicolas Anelka aber seinen Chef Raymond Domenech als "fils de pute" bezeichnet hat, ausgerechnet jenen Trainer, der ihn nach seiner Verbannung durch dessen Vorgänger Jacques Santini wieder ins Team geholt hatte, und sein "Va te faire enculer" in die Öffentlichkeit getragen wurde, ist nichts mehr wie es einmal war.

Die Spieler verteidigten ihn und weigerten sich kollektiv, ihre Trainingseinheit zu absolvieren; fortan stand der Maulwurf und nicht die Attacke gegen den Trainer am Pranger; der Trainer wurde genötigt, ein gemeinsam verfasstes Communique zu verlesen, während die Mannschaft sich im Bus versteckte. Bei ihren drei Grottenkicks gegen minderbegabtere Teams als das eigene erreichten "die Blauen" gerade mal einen Punkt und mussten folgerichtig nach der Vorrunde die Heimreise antreten.

Seither hagelt es Kritik von allen Seiten, von Politik, Fans und Medien. Schon sehen auch Kommentatoren des Auslandes (Y el país se pregunta sobre su identidad) das Land in einer latenten "Identitätskrise". Erneut fragt man sich, ob die Mannschaft nicht ein Spiegelbild der französischen Gesellschaft ist. Sehen wir in diesem undisziplinierten Haufen arroganter und unerzogener Jungmillionäre nicht ein Abbild unserer selbst, schallt es von den Prints und Screens?

Unkultur der Vorstädte

Für den Philosophen Alain Finkielkraut etwa liefert die gegenwärtige Mannschaft ein Spektakel französischer Uneinigkeit und Unbeständigkeit. Für ihn ist sie nicht nur eine "Schurkenmannschaft" (Une équipe de "voyous"), mit ihrer Grüppchenbildung, ihren ethnischen und religiösen Spaltungen und der Hatz auf ihren derzeit Klassenbesten, den weißen Bürgersohn Yoann Gourcuff von Girondins Bordeaux, habe auch "die Unkultur der Vorstädte über die städtische Zivilisation des Landes" gesiegt.

In ähnliche Hörner bliesen die Sportministerin und der Staatspräsident. Wollte Frau Roselyne Bachelot im Nationalteam "unreife Gangführer" am Werk gesehen haben, die "über verängstigte Kinder" herrschten, nannte Sarkozy die Spieler "Gauner", die "mit einem Berg von Knete ruhig gestellt" worden seien.

Freilich stellt dieser symbolhafte Vergleich wieder einmal eine große Überhöhung dar. So wenig wie damals vor zwölf Jahren die Stärke der "Les Bleus" die Stärke des Landes widerspiegelte, so wenig kann man in der Schwäche des Teams auf die Schwäche des Landes schließen. Das klägliche Scheitern und Auftreten der französischen Equipe hat weniger mit den Vorgängen im Land zu tun als mit unfähigen und verantwortungslosen Namen, Adressen und Personen.

Gewiss hat die Nation Probleme, sich an die veränderten Verhältnisse anzupassen, die Demografie, Globalisierung und der moderne Kapitalismus erzwingen. Mit Symbolhandlungen, wie der Ernennung einer Ministerin mit Migrationshintergrund, das Absingen der Nationalhymne, Appellen an die Grande Nation oder den geschäftsmäßigen Protesten der Gewerkschaften gegen die Rente mit Zweiundsechzig ist es nicht getan. Da muss mehr kommen, wenn das Land fit für das Kommende sein will.

Umgekehrter Rassismus

Noch Monate vor dem Turnier war es ein offenes Geheimnis, dass die Equipe Tricolore eine Ansammlung problematischer Charaktere ist, die sich untereinander weder ausstehen noch leiden können. Nur durch ein Handspiel Thierry Henrys hatte man sich überhaupt nach Südafrika geschummelt, was zu heftigen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit geführt hatte.

Als etwa nach dem trostlosen Gekicke gegen Mexiko der weiße Yoann Gorcuff mit Journalisten sprach und hinter ihm die "Stinkstiefel" und "Rüpel der Nation" Nicolas Anelka und Franck Ribéry vorbeiliefen, habe er sich, der als Klassenbester gilt, geduckt, um ja "keinen Schlag auf den Hinterkopf zu bekommen", schrieb L'Equipe.

Andere wiederum wollten in Erfahrung gebracht haben, dass es den verantwortlichen Leitern nur mit Mühe gelungen war, eine Massenschlägerei unter den Spielern zu vermeiden. Offensichtlich habe es im Team auch eine Art "umgekehrten Rassismus" gegeben, den von Schwarz gegen Weiß, von Alt gegen Jung, von Etablierten gegen Emporkömmlinge.

Deutsche Besserwisser

Dem Trainer Domenech, einen offenbar ebenso inkompetenten wie starrsinnigen "Psychopathen", der von seinem Verbandspräsidenten Jean-Pierre Escalettes aus unerfindlichen Gründen trotz flehentlicher Bitten von Öffentlichkeit, Fans und Spielern bis zum bitteren Ende in Amt und Würde gehalten wurde, war es nicht gelungen, aus dieser Ansammlung egomaner und ungezogener Typen ein funktionierendes Team zu formen.

Ob da im Vorfeld eine Fortbildung im Bereich "interkultureller Kompetenz" förderlich gewesen wäre, wie es die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Frau Maria Böhmer, wohlwollend dem DFB bescheinigt, muss bezweifeln werden.

Als beispielsweise der Moderator Reinhold Beckmann den ehemaligen Spieler Mehmet Scholl auf das Desaster der französischen Mannschaft ansprach, plauderte der Ex-Profi kurz aus dem Nähkästchen. Mit viel sagendem Blick sagte er, dass eine solche Eskalation auch anno 2000 bei der EM im deutschen Lager möglich gewesen wäre. Nur mit Mühe habe man damals vor zehn Jahren eine offene Rebellion und Konfrontation im deutschen Lager vermeiden können.

Nur zur Erinnerung: Damals hieß der deutsche Trainer Erich Ribbeck. Auch im Vorfeld hatte es schlimme Auftritte des Nationalteam gegeben und es war die Autorität des Trainers öffentlich angezweifelt worden. Ribbeck wollte seinerzeit seinen Kopf dadurch aus der Schlinge ziehen, indem er den fast vierzigjährigen Lothar Matthäus in seinen Kader berief und zum Abwehrchef machte, was auf wenig Gegenliebe nicht nur bei der Presse, sondern auch bei den Spielern stieß.

Dem Jubel, der neuerdings wieder mal über die deutsche Elf ausgebreitet wird, das ist der Kommentatorin der "FR" zuzustimmen, ist daher nicht zu trauen (Dem Jubel ist nicht zu trauen). Hätte sich das ghanaische Team vor dem Tor nicht so ungeschickt angestellt, die Lobeshymnen über die Multikulti-Truppe wären den Lobrednern im Hals stecken geblieben.

Vielleicht sollten all jene, die sich jetzt darüber so ergötzen, an einem x-beliebigen Wochenende einmal ein Spiel der Kreisliga besuchen. Dann kämen sie vermutlich zu ganz anderen Einschätzungen und Urteilen.

Ein Team, zumal das von Fußballprofis, ist ein höchst fragiles Gebilde. Schon nach zwei Niederlagen kann es in seine Bestandteile zerfallen, und Eifersucht, Neid und Missgunst können den mühsam erarbeiteten oder herbeigerufenen Teamgeist zerstören.

Davor ist auch die deutsche Mannschaft nicht gefeit. Zumal es gewiss nicht jedermanns Sache ist, sich mit Bushidos HipHop in Stimmung zu bringen. Man möchte da mal Mäuschen sein und ins Gesicht von Philipp Lahm blicken wollen, der bekanntlich Reinhard Fendrich zu seinen Favoriten zählt.