State of the Art Teil 2

Zum Stand medienpädagogischer Praxis in Deutschland

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Anhand etablierter Institutionen - deren Existenz zunächst einmal als gegeben beschrieben werden muß - kann die Problematik medialer Pädagogik einzeln unter die Lupe genommen werden. Als Schlüssel mag dabei das derzeitige Verhältnis zum Netz angesehen werden, auch metaphorisch. Ebenso metaphorisch ist der Bezug zur apparativen Ausstattung zu lesen, es geht dabei mehr um die Interessenlage als um die Realisation, mehr um die Füllung mit Inhalten denn um formale Perfektion.

Wiederum sind die Beschreibungen überspitzt, aber wie alle Polemik von Liebe zum Gegenstand getragen. Viele Entwicklungen sind zudem in allerjüngster Zeit so in Fluß geraten, daß jede schriftliche Äußerung darüber sich der Kritik des Zuspätkommens aussetzen lassen muß - in dieser Zeitschrift wurde immerhin ein Buchautor schon dafür kritisiert, daß er nur gedruckte Quellen ins Literaturverzeichnis aufgenommen hatte.

State oft the Art Teil 1

Institutionen

Von oben nach unten, vom Besonderen zum Allgemeinen: Im Sommer 1996 (!!) war ich der erste Geisteswissenschaftler an einer altehrwürdigen deutschen Universität, der für sich einen Netzzugang beantragte. Im Frühjahr 1998 bin ich am Fachbereich Design, an dem ich lehre, trotz mehrerer Informationsveranstaltungen für Kolleginnen und Kollegen und trotz prinzipiellem Interesse derselben, noch immer der einzige mit einem Internet-Account, und das seit mehr als drei Jahren. Zudem betreibe ich den einzigen Knoten meines Fachbereichs im hauseigenen Netz und habe die erste persönliche Homepage eingerichtet - was klarerweise als krasser Fall von Eitelkeit angesehen wurde und wird [da mag 'was dran sein...]. Mit Studentinnen und Studenten Verabredungen für Projektgespräche per eMail zu treffen, ist inzwischen kein Problem, aber außer den hauseigenen Sysops erreiche ich nur Kollegen aus den ingenieur- und wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereichen - die sind dafür fleißig in Austausch und Projektentwicklung.

Hochschulen

Die scientific community arbeitet intensiv mit dem Netz. Auch das Thema Copyright scheint sich zu beruhigen, im Zeitalter der ohnehin honorarfreien Publikation in wissenschaftlichen Zeitschriften und der ranking control durch Zitationsindices auch kein Wunder und schon gar kein Problem mehr. Für Texte wie Bilder zählt in Zukunft die Erstabgabe; sie muß entweder der Karriere dienen oder von Anfang an Geld bringen. Was dann folgt, kann getrost vergessen werden. Wer sich einmal eingeloggt hat, dem muß meist nicht mehr viel erklärt werden - ein wenig Technik, ein wenig Netikette, ein wenig Gestaltung, und der free flow of information läuft. Nachdem sich die kostenlose eMail-Adresse für StudentInnen tatsächlich herumgesprochen hat - drei Jahre sind selbst für die "stille Post" eine lange Zeit -, können die Lehrenden von den Lernenden wirklich verlangen, einem Referat die Recherche im Internet zugrunde zu legen; ob dies die Qualität des Erarbeiteten hebt, bleibt dabei noch die Frage. Die studentische Datensammelei hat sich verlagert, von den Tausenden Photokopien, die in irgendwelchen Ordnern vor sich hingilben, zu gigabyteschweren Datenbankdateien, die bei irgendeiner Festplattenrevision mitgelöscht werden. Allein der Anmerkungsapparat und die Literaturliste in den Referaten sind überproportional angeschwollen - aber schon wir hatten vor zwei Jahrzehnten nie alles gelesen, was wir zitierten, was wir von unseren Lehrer wiederum zwei Jahrzehnte zuvor ebenfalls ahnten.

Die Ausdifferenzierung medienpädagogischer Praxis an Hochschulen ging und geht von oben nach unten. Sonderforschungsprojekte ausgenommen, waren die alten Universitäten im Interesse an Netz-Projekten eher nachlässig, die Technischen Universitäten und Gesamthochschulen schon etwas besser, und die eigentlichen Gewinner des Internet-Anmeldungs-Rennens schienen die Fachhochschulen zu sein. Bei etwas genauerem Hinschauen erstaunt dieses nicht: Die FHs sind die Stiefkinder der Länder-Hochschulpolitik, geradezu Restbestandsverwerter auch aus der Sicht schulischen Unterrichts [Bei Einführungsveranstaltungen erlebe ich jedes Jahr die gleiche Arroganz seitens der Gymnasialdirektoren: "Wir bilden eigentlich nur für Universitäten aus!"].

Das vielgepriesene Modell einer praxisnahen Ausbildung an der FH ist weitgehend gescheitert, trotz des zumeist unbändigen Willens der Lehrenden, in der und für die Praxis zu unterrichten. Genau diese Lücke kann derzeit noch - aber absehbar nicht mehr lange - das Netz füllen: Angebote und Nachfragen regeln den Verkehr in einem weitgehend verrotteten System aus verschultem Curriculum und pseudo-praktischer Anwendung. Die hektische Neugründung diverser Fachhochschulen, die noch hektischere Hinzufügung atomisiert kleiner Fachbereiche auf Kosten der etablierten Ausbildungsgänge und die staatlich vorgeschriebene Verschlechterung der Studieninhalte zur Erhaltung des kostenlosen Studiums haben in dieser Ausbildung nunmehr so viel Chaos produziert, daß vor Ort niemand mehr sagen kann, er wisse, warum er wie ausbilde.

Für die qualitätvolle FH-Praxis im Netz war bis vor kurzem zudem eine Besonderheit der Personalstruktur verantwortlich, die in den zuständigen Ministerien sicher nie so gedacht war. Einer verhältnismäßig kleinen Anzahl Lehrender standen relativ viele Laboringenieure und technische Lehrkräfte zur Seite, aus denen sich schnell die Systemadministratoren rekrutieren liessen - lange bevor an Universitäten über den Sinn eines Netzzugangs nachgedacht worden war. Die Pflege der Server und FTP-Files, auch manch praktischer Angebote konnte quasi subversiv in den Hochschulbetrieb eingebracht werden, ohne daß lange nach dem Nutz und Frommen zugunsten des eigenen Platzes zu fragen war. Eine ähnliche Qualität findet sich notabene nur noch in abgewickelten Sonderforschungsbereichen und deren Umfeld an Technischen Universitäten [Beispiel: Karlsruhe] sowie in einigen Orten der neuen Bundesländer, deren Umgebung mit "strukturschwach" zu kennzeichnen wäre [Beispiel: Chemnitz]. Hier sind Server entstanden und werden gepflegt, ohne die das deutsche Netz erheblich ärmer wäre - Forschungsförderung unterhalb der Drittmittel-Regularien und daher viel effektiver. Nachdem die Etats gegen Null gesundgeschrumpft werden, ist auch damit vorbei; gerade Techniker- und Systempflegestellen sind nunmehr die ersten, die gestrichen werden. Die Dienstleistung soll wohl von den Lehrenden erbracht werden, wozu die aber nicht kommen, weil sie andauernd in irgendwelche Studienreformkommissionen beordert werden, wo sie dem Niedergang der Lehre zustimmen müssen.

In diesem Zusammenhang ist auch eine inhaltliche Ebene zu berücksichtigen. Mit zunehmendem Druck der Öffentlichkeit auf Hochschulen und Verwaltungen wächst die Angst der Leitenden vor unbequemen Nachrichten auf dem Server: Als meine Frau und ich auf meiner FH-Homepage vor einem Elternverein mit einem von rechtsextremen Kontakten belasteten Vorstand warnten und obendrein einen als Bundesbehörde kaschierten weiteren Verein der Untätigkeit ziehen, zogen beide mit massivem, aber hohlem Geschrei ["...behalten uns rechtliche Schritte vor..."] zum Dekan, der nichts Besseres zu tun hatte, als mir die weitere Bereitstellung dieser Seite zu untersagen. Ähnliche Fälle von vorauseilender Selbstzensur auf Hochschulservern sind mir zu Dutzenden von StudentInnen und AssistentInnen berichtet worden; der free flow of information ist zumindest im Wissenschaftsnetz auf die politisch korrekten, niemand berührenden und inhaltlich affirmativen Angebote zusammengestrichen worden. Die Tendenz zeigt sich auch im pathogenen Bild: Ultrarechte und terroristische Inhalte werden zunehmend unter kommerziellen Adressen auf der Basis von Scheinfirmen angeboten, nicht mehr über Hochschulen. Durch die Verlagerung ist dieses Problem unübersichtlicher geworden, ein weiteres Thema für spätere pädagogische Überlegungen.

Gymnasien

Was Inhalte angeht, sind die Gymnasien fein heraus: Da trägt der Direktor die komplette Verantwortung, delegiert diese an die netztragenden LehrerInnen und wacht mit jener Strenge darüber, die wir anfangs der sechziger Jahre schon an unserer Schülerzeitung zu spüren bekamen. Trotzdem sind sie die eigentlichen Gewinner am Netz, denn sie können die formalen Ansprüche an Lehre und Unterricht nach Gutdünken mit Inhalten füllen - und dies liegt im Ermessensspielraum der einzelnen LehrerInnen. Obendrein ist die Finanzierung aller oberschulischen Belange, sieht man von der Bereitstellung der Lehrergehalte ab, vollends vom Staat abgegeben worden; der Etatierungs-Durchschnitt eines staatlichen oder städtischen Gymnasiums liegt derzeit bei weniger als zwanzig DM pro SchülerIn und Jahr.

Das Fundraising über Elternpflegschaften hat eine lange Tradition; für die Netzanbindung ist dies das kleinste Problem. Denn dort läßt sich bequem mit alten 386ern arbeiten, und komplizierte Protokolle fordern die Informatik-Arbeitsgruppen nur zu eigener Aktivität heraus. Hier braucht niemand die schöne neue Windows95er Welt oder den Apfelhauch. Dafür sind Inhalte gefragt, von pubertärer Selbstverwirklichung bis zu naturwissenschaftlichen Grundfragen und bibliographischer Einübung. Jeder gelungene Verbindungsaufbau zu Satelliten, Menschenrechts-Organisationen und fernen Universitäten wird begrüßt; jeder Briefaustausch mit Partnerschulen ist mit eMail interessant geworden; jeder Schüler- und Lehreraustausch gewinnt an Effizienz.

Soweit so gut. Nicht vergessen werden sollte, daß es oft genug die Eltern waren, die diesen Zustand gegen die Schulleitungen durchgesetzt haben. Auch die Tatsache, daß inzwischen mit zwei Dritteln aller Schulen auch eine international respektable Netzpräsenz deutscher Gymnasien erreicht ist, darf nicht dem Einsatz von Schulleitungen und übergeordneten Administrationen angerechnet werden, im Gegenteil.

In erster Linie liegt es an einem soziologisch beschreibbaren Phänomen: Die jungen Unternehmer, die den größten Teil der Provider und Dienstleister am Netz stellen, sind selbst meist ordentliche Familienväter und haben sich genauso ordentlich über die Verhältnisse an ihren Orten aufgeregt. Was schnell entstand - und meines Wissens ohne Vorbild im europäischen und nordamerikanischen Raum ist -, sind Strukturen der Public Relation durch soziales Engagement. Kein kommerzieller Provider kommt mehr ohne einen Strang von ihm geförderter Kultureinrichtungen, Sportverbände und eben auch Schulen aus. Inzwischen lassen sich - regional mindestens im Umraum Kölns hervorragend zu beobachten - Klassifikationen von Provider-Qualitäten nicht mehr allein durch Zugriffsgeschwindigkeiten und Kundenreferenzen herstellen, sondern mindestens ebenso bedeutsam über die durch kostenlose Serverbereithaltung unterstützten Schulen und Verbände.

Die Schulbehörden sind es nun in der Regel, die alle Euphorie durch Anmahnung steigender Kosten bremsen und nie müde werden, die Schulen zur Ferne von kommerziellen Providern anzumahnen. Die Behörden, ihre Verwalter und die mit ihnen meist konformen Lehrerverbände ahnen wohl, wohin die Reise geht: Je mehr die Netz-Arbeit zum Schul-Alltag wird, desto weniger werden bestehende Unterrichtsstrukturen aufrechtzuerhalten sein, desto eher werden sich Klassenverbände in Projektgruppen und der Frontalunterricht in eine Arbeitsgemeinschaft atomisieren - ein Horror für jede Schulaufsichtsbehörde [die ja nicht umsonst so heißt]. An dieser Stelle setzt jedoch der gute Wille guter PädagogInnen ein, die genau wissen, daß der prozessuale Charakter dieser Unterrichtsformen ohnehin bei den SchülerInnen besser ankommt und daher bessere Ergebnisse garantiert. Auch wenn das eigene Herumfragen keineswegs repräsentativ sein kann, scheint es mir doch typisch zu sein, daß mehr LehrerInnen zur Netzarbeit und damit zu einer avancierten Medienpädagogik über die Arbeit an fachspezifischen Projekten gekommen sind als über ein allgemeines Interesse an Medien, Computern und Netzen. Gerade historisch-soziale Fächer erhalten hier eine größere Attraktivität: Die Sprache Latein hat durch Internet-Projekte eine gewisse Renaissance erlebt.

Wie im universitären läßt sich auch im schulischen Umfeld eine reziproke Verteilung von oben nach unten feststellen: Je angesehener der Schultypus, je weltfremder der Schulträger, desto geringer die Bereitschaft zu Anschluß und Mitarbeit am Netz - Ausnahmen bilden Internate in abgelegenen Regionen. Für Waldorfpädagogen waren noch vor 15 Jahren Photoapparate und Mikrophone technisches Teufelszeug; da wundert sich niemand über heutige Zurückhaltung, was Computer und Netze angeht. Die religiösen Schulträger haben ihr eigenes Verhältnis zur immateriellen Information und zeigen sich daher noch zögerlich. Umgekehrt: Kein Schultyp entspricht aus seiner eigenen Geschichte heraus so sehr dem vernetzten Denken wie die Gesamtschule - und kein Schultyp hat sich schneller wie effektiver des Netzes bedient. Man mag von Homepage-Wettbewerben halten, was man will: Daß sich seit Jahren auf den vordersten Plätzen die meisten Gesamtschulen finden, spricht deutlich genug für die Offenheit zur Projektarbeit, als die sich das Handeln am Netz darstellt. An den Gesamtschulen läßt sich auch die dunkle Seite des didaktischen Konzepts von Projektarbeit aufzeigen: Insgesamt sind die Leistungen der SchülerInnen hier erheblich schlechter als die von GymnasiastInnen - setzt man die gleichen Leistungsbewertungen voraus, die aus dem Gymnasium kommen. Daran kann kein Netz etwas ändern, es sei denn, das ganze System veränderte sich.

Realschulen, Sonderschulen, Grundschulen

Auch die Realschulen sind im Netz-Feld gut vertreten: Im Windschatten politisch umstrittener Schulversuche kommt es weitgehend auf die Aktivitäten einzelner LehrerInnen an, weniger auf Programme und Debatten. Beklagenswert scheint dagegen allen Berichten nach die Ausstattung von Hauptschulen mit vernetzten Computern zu sein; dabei wäre gerade an diesem Schultyp mit seinem hohen Anteil nicht-deutschsprachiger SchülerInnen im Bereich von Sprach- und Sozialisations-Programmen viel zu erreichen. Dies haben Beispiele aus den USA, gerade aus sozialen Brennpunkten, recht deutlich vorgeführt, allen Unkenrufen der Sachbeschädigungen zum Trotz.

Nur zögerlich werden auch Sonderschulen mit Netzzugängen ausgestattet, obwohl gerade hier eine Klientel gegeben ist, die die Ausstattung mit Denk(hilfs)maschinen besonders nötig hat. Medienprogramme im Sonderschulbereich sind ohnehin ein spezielles Thema; es scheint zum Selbstverständnis vieler, allzu vieler SonderpädagogInnen zu gehören, daß Technik und Medien - meist ohnehin gleichgesetzt - des Teufels seien. Doch selbst hier sind Silberstreife am Horizont erkennbar; speziell die Sprachheilpädagogik ist bald nicht mehr ohne computerisierte Lernprogramme denkbar - und dies noch ohne jede blecherne Stimmhilfe...

Ist die Vernetzung der Gymnasien, Gesamt- und Realschulen samt allen Implikationen für Unterricht und Schulbetrieb bereits so weit fortgeschritten, daß sie im Sinne einer Autopoiesis gar nicht mehr aufgehalten werden kann, so entpuppt sich derzeit die Grundschule als fortifikatorisch gerüstete, feste Bastion gegen alle Medienzugriffe. Männlich von 'Luddites' (mit 'Maschinenstürmer' nur unzureichend, weil historisch verengt, zu übersetzen) bedroht, weiblich als unsinnlich getarnt, fristen von Eltern gestellte Computer ein müdes Dasein in der Spielecke wohnlich hölzerner und bunt bemalter Schulzimmer. Dies ist insofern widersinnig, als es inzwischen kein Kindesalter gibt, das besser mit Lernsoftware versorgt wird, als die Zeit der Grundschule. Vom 'Math Blaster' ausgehend, sind so ungefähr alle schulischen Fähigkeiten dieses Typs komplett über gute, wenigstens gewaltfreie und didaktisch einigermaßen begründete Programme trainierbar. Sicher brauchen diese Programme fast durchwegs einen höheren Hardware-Aufwand als die Netzzugänge in Schule und Universität, doch sollte selbst dies kein Grund der Abschreckung sein, denn kindgerechtes Spielgerät für den Schulhof ist genauso teuer - und in seiner didaktischen Wirkung keineswegs auf Sinnfragen hin getestet.

Die Medienerziehung in Grundschulen ist historisch ein trauriges Thema: Immer als letzter Schultyp mit neuen Informationstechnologien ausgestattet, in Studium und Fortbildung nur unzureichend vorbereitet, müssen GrundschullehrerInnen heute eine Klientel bedienen, die extrem passiv medienbelastet ist - vor allem mit Medien sozialer Unterschichten wie der Dauerberieselung durch kommerzielle Radio- und Fernsehprogramme sowie einer starken Exposition von Medienmaterial, das Kinder im Alter zwischen sechs und zehn mental nicht verarbeiten können. Der Montag als Schreckenstag aller Pädagogen hat nicht allein die sicher auch verbreitete Gewalt zuhause als Hintergrund, sondern vor allem überstarke (wiederum passive) Medienpräsenz. Die pädagogische Schlußfolgerung ist inzwischen zumeist ein weitgehend atomisierter Unterricht, der in Aufmerksamkeitshäppchen von je zehn Minuten samt unendlichen Frei-Zwischen-Zeiten abläuft und somit dem Angebot kommerzieller Fernsehsender verteufelt ähnelt. Insofern ist die Wut auf alle neueren Medien - noch vor aller persönlichen Unlust der Auseinandersetzung mit ihnen - nur zu verständlich, doch die radikale Ablehnung markiert den falschen Weg. Umgekehrt kennt wohl jede/r, die/der sich mit dem Thema beschäftigt, auch die Gegenseite - nämlich das simple Verwahren von Kindern in Freistunden oder bei Lehrermangel vor einem Videogerät. Gerade in Grundschulen, den eigenen Intentionen zum Trotz.

Im Medieneinsatz der deutschen Grundschulen manifestiert sich ein problematisches Erbe sowohl der 68er Bewegungen als auch des real existierenden Sozialismus: die Schaffung möglichst großer Basismengen gleichen Wissenstandes in einer Klasse, vor aller differenzierten Individualförderung. Die soziale Kompetenz wurde zur Zielvorstellung, vor allem Erwerb der üblichen Fähigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens. Prinzipiell ist das gut und richtig, doch schließen die Erkenntnis der Differenz von Realien vs. Medialien und der Erwerb von gruppendynamischer Qualifizierung einander weitgehend aus, weil die Vertrauensbasis des Einen die Falle des Anderen ist.

Am Rande dieser Überlegungen ergibt sich ein Sonderproblem, das für die Medienerziehung als metaphorisch angesehen werden kann: die im deutschen Sprachraum übliche, feste Verknüpfung des Schreibens als manueller Fähigkeit mit der Gratifikation durch das meist zuvor schon gekonnte und nun nur stabilisierte Lesen - in den USA wird meist das Lesen rund zwei Jahre vor dem Schreiben erlernt. Auch in Japan und anderen kulturell stark ausgeprägten Nationen ist die Fähigkeit des Lesens keineswegs mit der Passivität gleichgesetzt, die aller Mediennutzung allgemein unterschoben wird. Die Spiegelung des Lesens in das Schreiben hat eine deutsche Sonderentwicklung genommen, von den Schreib- und Rechenmeistern des 16. Jahrhunderts über die als Herrschaftswissen und -instrument genutzte Kanzleischrift bis in die Sprachformung administrativer Texte. Letztere ist in manchen europäischen und asiatischen Sprachen mindestens ebenso stark ausgeprägt, dennoch haben sich dort in der Typographiegeschichte schon früh Tendenzen zur Optimierung der Lesbarkeit durchgesetzt, die hierzulande vergraben oder vergessen scheinen. Mehrere Jahrhunderte pädagogischer Vorlauf sind nicht leicht abzuräumen, dennoch sollten Lesen und Schreiben gerade im Kontext medialer Gebrauchsformen dringend entkoppelt werden.

Kindergärten

Besser als in den Grundschulen scheinen die Verhältnisse in vielen Kindergärten zu sein, obwohl hier ein starkes Stadt-Rand-Land-Gefälle zu herrschen scheint. In entsprechenden Großstädten haben offensichtlich die Gespenster 'Future Kids' und 'Internet Café' - obschon wirtschaftlich bislang kein allzu großer Erfolg - zu passenden Reaktionen geführt. Obendrein erwies sich gerade der Bereich der Vorschulpädagogik als lohnende Spielwiese für Programmierer [fast müßte unterstellt werden, daß diese selbst gerade Eltern von Vorschulkindern sind], so daß es für erste Grundrechenarten wie für das Lesenlernen hervorragende Programme gibt, ebenso für den Erwerb pragmatischer Fähigkeiten im Verknüpfen von Wahrnehmungen.

Selbst die Internet-Ressource par excellence - Aufmerksamkeit - läßt sich hervorragend am Computer trainieren. Allerdings genügen sich derlei Programme noch selbst, sind Reiz-Reaktions-Schemata von Kindergarten- und Grundschulkindern noch zu wenig ausgebildet und insgesamt zu langsam, um beispielsweise effektiv im Netz arbeiten zu können. Didaktisch mag dies vorläufig - jenseits der Bereitstellung von passender Software samt Dienstleistungen für die ErzieherInnen - auch gar nicht notwendig oder erwünscht sein, da sozial sicher zunächst das körperliche Zusammensein der Kinder trainiert werden sollte, bevor es über Maschinen und Netze substituiert wird. Die Referentialität des Netzes evoziert zuviele Rekurse der Wahrnehmung, als daß diese Kindern unter zehn Jahren bewußt oder sinnstiftend eingesetzt werden können, mindestens ohne erfahrene AnwenderInnen als Begleiter.

Technische Ausstattung als metaphorischer Indikator für die Bereitschaft zur Auseinandersetzung im didaktischen Prozeß - sicher kein ungefährlicher Ansatz. Daß er für eine Zustandsbeschreibung als Grundlage genommen wird, hat einmal den einfachen Grund, daß die Bereitschaft zur Investition insgesamt als Indikator eines Interesses gesehen werden kann [und dies in Deutschland mehr als anderswo, weil hierzulande Bildung als gegeben und keiner weiteren Pflege bedürftig vorausgesetzt wird]. Den positiven Fall eines persönlichen Engagements von LehrerInnen, StudentInnen und SchülerInnen über die apparative Ausstattung hinaus darf eigentlich niemand voraussetzen - die Administratoren schon gleich gar nicht. Klar sind andere Faktoren ebenso wichtig, doch die emergieren noch langsamer aus medialer Passivität und didaktischer Unflexibilität als das einigermaßen simple Spiel der Kräfte im ökonomisch-politischen Verteilungskampf.

Programme

Eine der positivsten Annahmen, die momentan durch die allerorts geführten Debatten um die Pädagogik am oder im Internet geistern, ist die der Auflösung wesentlicher Teile des bisherigen Schulunterrichts. Für die Verwalter eines beamtenrechtlich fundierten Systems aus unstreikbaren, den Staatswillen unge- und -befragt vermittelnden Lehrerinnen und Lehrer ist dieses Gespenst überlebensgroß. Und dennoch kann es aus praktischen Gründen kaum aufgehalten werden. Wenn eine Schule, gleich welchen Typs, die üblichen Ausfallstunden tatsächlich täglich neu verteilt und ausgeglichen kriegt, dann nur mit Hilfe ausgeklügelter Programme und hoher Flexibilität aller Beteiligten. Von den Lehrern ist sie als erste zu erwarten, denn ihnen geht es dadurch besser: mehr motivierte Kinder und Studenten, weniger Leerlauf im Tag. Der nächste Schritt, die Auflösung von Klassenverbänden und Großseminaren, kann angesichts vieler sozialer Probleme dieser Versammlungsform letztlich nur begrüßt werden.

Von der zunehmenden Projektorientierung aller Pädagogik in den letzten zwei Jahrzehnten sollte man nicht mehr schreiben, sie sei hier vorausgesetzt. Daß diese Atomisierung der Lehrinhalte in chaotische Modelle immer neuer Zusammensetzungen von Kinder- und Studentengruppen zu einzelnen Projekten und Abläufen sich bewährt hat, ist der schönste Erfolg aller antiautoritären Ansätze und Bewegungen. Inzwischen ist dies sogar in den zuständigen Ministerien angekommen und manifestiert sich in baukastenartigen Studienverlaufsplänen ebenso wie in der Erlaubnis 'schulscharfer' Einstellungen spezieller Fachlehrerinnen und Fachlehrer.

Soweit stimmt die ganze Situation, rein formal gesehen, schon beinahe hoffnungsvoll. Wessen es nun bedarf, sind nicht einzelne Lernprogramme - die emergieren in Angebot und Gebrauch [und ehrlich: Sind nicht Schulbücher das überflüssigste, was es gibt? Kleinere How-to-Werke, partikularisierte Einführungen in jeweilige Themengebiete sind alles, was wir und andere Lernende brauchen.] -, sondern einfache verwaltbare Netzstrukturen zur Aufrechterhaltung passender Kommunikationsformen. Die Technik dazu ist das kleinste Problem, wenn die Inhalte stimmen.

Der Ratinger Mathematiker Günther Zepf erarbeitet seit Jahren mit hochbegabten Kindern Kurse zu gängigen, aber nicht-schul-curricularen Problemen (der Schulbehörden und vor allem der Fachlehrer vor Ort wegen); wenn er an langen Wochenenden, in Ferien oder an Samstagen seine Kurse anbietet, werden die Programmierschritte meist schnell in Turbopascal nachvollzogen - die Geräte stellen entweder Firmen oder bringen die Kinder selbst mit, es reichen einfache 386er mit DOS 5.0. Auch das ist Medienpädagogik: Die Technik dient dem Vorgehen, nicht mehr und nicht weniger.

Die wichtigsten Programme für den Unterricht werden in Kürze vor allem eMailer werden, mit denen Verabredungen für einzelne Projekte und Sitzungen getroffen werden. (Fach-)Hochschulseminare mit zentralem eMail-Dienst sind derzeit noch neue, aber bald gängige Praxis, auch und gerade in den Fächern, die ein hohes Maß an individueller Betreuung bedürfen - künstlerisch-gestalterische und geisteswissenschaftliche insbesondere. In den Schulen dauert dieser Prozeß wiederum etwas länger; auch hier wieder eine Skala von oben nach unten: zunächst die Sekundarstufen, zuletzt die Grundschule. Doch auch hier ist eine Bindung ans Netz vorhersehbar, zumal die persönliche Präsenz der LehrerInnen aufgrund verwaltungstechnischer Probleme konstant sinkt.

Die Bedeutung von eMail-Verteilerprogrammen zum Aufbau von pädagogischen Strukturen als Ersatz und Nachfolge für die sich langsam aus dem Gebäude verabschiedende Schule führt auf den Anfang der Überlegungen zum derzeitigen Stand der Dinge zurück. Wo Autoritäten, die für jeden pädagogischen Prozeß notwendig sind, und wo Bildung, die als Sachgrundlage für alle Didaktik Voraussetzung ist, bereits verloren sind, ist bislang als einziges Privileg der Lehrenden gegenüber den Lernenden die Verfügung über Zeitspannen geblieben. Bevor dieses endgültig vorbei ist, sollten wenigstens Versammlungsmethoden eingeübt werden, die eine Kompetenzverteilung im Lehren und Lernen sichern. Dies läßt sich nur über kommunikative (Epochen-)Schwellen regeln, deren Initiator gemeinhin jeden Dialog bestimmt. Beobachten können dies jetzt schon alle Eltern mit Schulkindern: Wer die Telphon-Rundruflisten anführt, hat die Nachrichten zuerst und kann entscheiden, wie schnell wem was weitergegeben wird - oft genug von zentraler Bedeutung für Noten und Extrabeurteilungen.

Heutige Medienpädagogik bestimmt sich - und dafür mag als gutgemeintes und partiell auch brauchbares Exemplum die entsprechende CD-ROM der Bundeszentrale für politische Bildung stehen - weitgehend aus kategorialen Wertungen vorhandener Software, die wiederum in erster Linie auf konventionelle Lernziele hin überprüft wird. Medien spielen in diesem Zusammenhang die Rolle von verselbständigten Transportern - überspitzt: Wie wenn man binnen einer Stunde sämtliche Züge der Deutschen Bahn und einige Tausenden Lastkraftwagen auf deutschen Autobahnen fahrerlos in Bewegung setzte und dann beobachtet, was passiert. Kein Wunder, daß in diesem Bild immer alle Rettungsversuche zu spät kommen müssen.

Die vielen kleinen positiven Beispiele von eMail-Kontakten, von Austauschstrukturen in Haupt- und Nebennetzen mögen hier dafür herhalten, daß es bei einer Medienpädagogik sui generis um die Positionen an medialen Ritualen und Handlungen geht, nicht um die industriell oder sonstwie gegebenen Materialien. Die Beziehung von Medien und Ritus ist ureigenes Thema aller theologischen Fakultäten und der geisteswissenschaftlichen Fächer Archäologie und Kunstgeschichte; umso verwunderlicher erscheint, daß deren Ergebnisse für medienpädagogische Fragestellungen so wenig umgesetzt werden. Auch hierzu will ich noch Ansätze und Konzepte zusammenstellen.

Fazit

Der Stand der Dinge ist im Frühjahr 1998 wahrlich besser als sein Ruf. Er könnte noch besser sein. Das jedoch wird durch grundsätzliche Überlegungen und/oder Ängste verhindert: Eine wirklich praktizierte Medienpädagogik würde die Institutionen, die bislang Bildung (auch im Sinne Hartmut von Hentigs) vermittelten, erodieren und letztlich auflösen. Prinzipiell ist dies nichts Schlechtes, da die Schule generell nicht übermäßig beliebt ist, doch en detail wird das fundamentale Spezifikum allen Lehrens, der persönliche Kontakt zweier oder mehr Menschen, erschwert. Medienpädagogik muß also heißen, die formal eingefrorenen und inhaltlich verkrusteten Strukturen bisheriger Didaktik zugunsten offener Formen aufzulösen, die in der Integration aller Arten von technischen Hilfsmitteln eine weitere Differenzierung des Angebots und der Kommunikation zwischen den Parteien des Unterrichtens ermöglicht. Der Weg, den die Gesamtschulen, Gymnasien und Fachhochschulen hierzulande einschlagen, ist richtig - er wird aber auch auf diesem Gebiet zu sozialen Verwerfungen führen, deren Umfang momentan kaum überblickt werden kann.

Die Zustandsschilderung ist immer oberflächlich, kann tiefere Probleme nur ankratzen. Dennoch lassen sich Dimensionen bestimmen, deren Auslotung zur Umwertung bestehender Verhältnisse und damit mittel- oder langfristig zu deren Auflösung führen werden oder können. Die Debatte wird immer stärker von außen an pädagogische Institutionen herangetragen. Die schießwütigen Kinder von Jonesboro, die immer blutiger werdenden Abgreif- und Klamottenklau-Aktionen kleinerer Gangs, auch die Unsicherheiten des Kindertransports von und zur Schule treffen das Selbstverständnis einer Gebäudeanlage genauso ins Mark wie die internen Probleme bei der Aufrechterhaltung eines Mindestmaßes an Autorität zwischen LehrerInnen und SchülerInnen sowie der Gruppen untereinander. Wenn ein Lehrer seine ehemalige Ehefrau auf dem Schulparkplatz umbringen läßt, ist das ebenso autoritäts-ruinierend wie die obligate Messerstecherei zwischen 13jährigen, die schon alle deutschen Schulzeiten der letzten zwei Jahrhunderte kannten.

Körperliche Anwesenheit beim Unterricht ist Gefährdungen ausgesetzt, und schon das läßt das alte Schulsystem mehr und mehr erodieren. Die Beziehungen zwischen LehrerInnen und SchülerInnen haben sich in vieler Hinsicht massiv verändert; da ist mehr als eine Grenze fließend geworden. Und nun bieten Medien effiziente Hilfsmittel der Überbrückung von Differenzen sowie des Wissenserwerbs an - kaum eine Attraktion könnte größer sein. Der Zustandsbericht muß also mit einem zweischneidigen Fazit aufwarten: Die Möglichkeiten des Wissenserwerbs wie der Wissensvermittlung - dito für die Fertigkeiten (mit Helmut Minten: nicht die Fähigkeiten!!) - sind explodiert, entgrenzt und riesig groß geworden. Doch sie haben mediale Qualität, stehen neben den Menschen, garantieren keine Verständigung und schon gar kein Verständnis. Derlei zu erwerben zu lehren, ist der Sinn einer Medienpädagogik. En detail kann das Arbeit bedeuten - 'mal sehen, was dabei herauskommt.