Strafrechtsreform im Eilverfahren und im Alleingang

Alexis Tsipras. Foto: Wassilis Aswestopoulos

Kurz vor Torschluss bringt die Regierung Tsipras eine umstrittene Reform des Strafgesetzbuchs eilig ins Parlament - mit geringeren Strafen für zahlreiche Vergehen und einer abgeschwächten Definition von Vergewaltigung

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Das Strafgesetzbuch wurde zuletzt vor knapp siebzig Jahren neu gefasst. Seit zehn Jahren haben sich unter wechselnden Regierungen jeweils mit von diesen ausgewählten Experten mit dem Kodex befasst. Nun soll er im Eilverfahren, nach einer zweitägigen Parlamentsdebatte verabschiedet werden.

Eine Abstimmung über die einzelnen Artikel des Kodex ist laut parlamentarischer Ordnung in diesem Verfahren nicht möglich. Zuvor hatte die Regierung gegen den Widerstand die Spitze des höchsten Strafgerichts, des Areopags, bestimmt.

Diskussion und Abstimmung im leeren Parlamentssaal

Die Diskussion und Abstimmung findet seit Donnerstag in einem leeren Parlamentssaal statt. Die Fraktionen der Nea Dimokratia, der Bewegung des Wandels (KinAll), der kommunistischen KKE und der Goldenen Morgenröte haben den Saal verlassen. Am Mittwoch hatte der Justizausschuss des Parlaments unter gleichen Voraussetzungen, mit dem faktischen Fehlen der Opposition über die Strafgesetzbuchnovelle beraten.

Nach der Beratung stellte der Ausschusspräsident fest, dass "nach den hier erfolgten Äußerungen, die Novelle mit der Mehrheit der Stimmen angenommen wird". Denn, selbst ohne Opposition findet sich für das Reformprojekt auch bei Syriza keine Einstimmigkeit, dazu sind einzelne Paragraphen zu kritisch.

Schließlich wurde das gesamte Paket am Mittwochmittag in einer nicht namentlichen Abstimmung, allein mit der Zustimmung der Fraktionssprecher von Syriza und To Potami verabschiedet. Der Kodex tritt somit zum 1. Juli 2019 in Kraft.

Abschwächung der Definition einer Vergewaltigung

Der am meisten und kontroversesten diskutierte Artikel betrifft die Vergewaltigung. Hier wollte die Regierung die Definition des Tatbestands der Vergewaltigung so weit aushöhlen, dass selbst Vergewaltigungen, die gemäß des problematischen, bisher bestehenden Artikels definiert waren, nicht mehr als solche gelten. Das Ergebnis wäre ein, auch rückwirkend für bereits Verurteilte greifender, Straferlass für Vergewaltigungen

Vereinfacht lässt sich die Reform auf ihre Quintessenz zusammenfassen, dass eine strafrechtlich relevante Vergewaltigung nur dann angezeigt werden kann, wenn das Opfer nachweist, sich genügend gewehrt zu haben. Was in diesem Fall der angebrachte Grad des Widerstands ist, darüber sollten Richter entscheiden. Für eine Verurteilung wegen Vergewaltigung muss gemäß Artikel 336 der Reform eine Gefahr für Leib und Leben manifestiert werden.

Ohne körperliche Gewalt erfolgende, im allgemeinen Verständnis als Vergewaltigung angesehene Taten, sollen gemäß des Artikels 336 der Regierung nur als minderschwere Vergehen der sexuellen Belästigung oder Nötigung gewertet werden. Dies hätte auch eine direkte Folge auf die Verjährung dieser Taten. Selbst bei einer späteren Rücknahme des Paragraphen, könnten heute betroffene Täter, sich auf das hinsichtlich der Strafe für sie günstigere Strafrecht berufen.

Gegen die Reform gab es intensiven öffentlichen Widerstand. Außer vielen Parlamentarierinnen stemmt sich unter anderen auch der Syriza-Abgeordnete Yannis Michelogiannakis gegen den Artikel.

Ich fordere den Minister der Justiz und den Präsidenten des Parlaments auf, wenigstens im letzten Moment den Artikel 336 aus der Novelle des neuen Strafrechtskodex zurückzuziehen. Denn, die neue Definition wird die Arbeit der Justiz erschweren, wobei Paragraph 5 immense Schwierigkeiten bei der Verurteilung von Personen, welche das verachtenswerte Verbrechen der Vergewaltigung begangen haben, bringen wird. Dies ist vollkommen konträr den ethischen Positionen und Werten, die ich vertrete und die auch in der griechischen Gesellschaft verankert sind. Daher werde ich gegen den Artikel stimmen, wenn er in seiner jetzigen Form beibehalten wird.

Yannis Michelogiannakis

Nachdem auch von Seiten der Menschenrechtsorganisation Amnesty International eine scharfe Verurteilung des geplanten Artikels 336 erfolgte und von vielen Seiten mehrfach darauf hingewiesen wurde, dass die Formulierung der Definition von Vergewaltigungen entgegen der auch von Griechenland unterschriebenen Vereinbarung von Istanbul (in griechischen Medien als Vereinbarung von Konstantinopel bezeichnet) gefasst wurde, korrigierte die Regierung im letzten Moment den Artikel.

Die Definition der Vergewaltigung beinhaltet nun auch psychische Gewalt. Weiterhin entspricht die Definition aber nicht der Fassung, die in der Vereinbarung von Istanbul verankert ist.

Seitens der mit Syriza in einer Fraktionsgemeinschaft im Parlament vertretenen Grünen bemerkte Yannis Tsironis in seinem Redebeitrag, dass die Grünen, auch dieser Regelung keinesfalls zustimmen würden. Schließlich sah sich Justizminister Michalis Kalogirou gezwungen, in letzter Minute den strittigen Paragraphen 5 des Artikels 336 bis auf Weiteres zu streichen.

Geringere Strafen für zahlreiche Vergehen

Mit der öffentlichen Diskussion über den umstrittenen Artikel 336 rückten zahlreiche weitere, problematische Artikel in den Hintergrund. So wurde die Mindeststrafe für heimtückischen Mord aus niederen Beweggründen von lebenslänglich auf das Strafmaß von mindestens zehn, und das Regelmaß von 15 Jahren abgemildert.

Ein weiterer Artikel der Reform senkt beim Strafmaß für das Abhören von Telefonaten und ähnlicher Kommunikation die verpflichtende Inhaftierung auf und setzt die Höchststrafe auch fünf Jahre fest, während bisher bis zu zehn Jahre Zuchthaus drohten. Nun sind für dieses Vergehen auch Geldstrafen möglich.

Der frühere Generalinspektor der öffentlichen Verwaltung, Leandros Rakintzis, selbst im Rang des Richters des Areopags, errechnete, dass mit dem neuen Kodex umgehend bis zu 4500 verurteilte Straftäter vorzeitig entlassen werden. Er kritisierte, dass die Abschaffung kleinerer Straftaten, die künftig als Ordnungswidrigkeiten behandelt werden, zum Beispiel bei Nachbarschaftsstreitigkeiten die Selbstjustiz fördern würde.

Rakintzis kritisiert, dass mit dem neuen Kodex laut Artikel 390 zwar weiterhin öffentliche Besitztümer gegen Missbrauch und Unterschlagung geschützt werden, dies aber nicht wie bisher für als Erbe an den Staat fallende Besitztümer gilt. Er bemängelt den durch Artikel 154 abgeschwächten vorläufigen Schutz, den Bürger mit einer Einstweiligen Verfügung einklagen können.

Rakintzis findet es nicht in Ordnung, dass das für eine strafmildernde Einstufung als Jugendlicher geltende Alter bis auf das fünfundzwanzigste Lebensjahr ausgeweitet wurde. Eine Verringerung der Maximalstrafe für mehrfache fahrlässige Tötung von bislang zehn Jahren auf acht Jahre findet nicht seine Zustimmung. Ebenso kann er nicht akzeptieren, dass Vandalismus nun weitgehend straffrei bleiben soll.

Rakintzis goutiert nicht, dass für bestimmte Strafen nun statt Gefängnis "Arbeit für das allgemeine Wohl" geleistet werden soll. Als Begründung beruft er sich auf die Statistik der betreffenden Straftatbestände, die hauptsächlich Täter in Nadelstreifenanzügen betreffen. Bei diesem Täterkreis sei, so Rakintzis, die Vermutung angebracht, dass sie eher nicht für Gartenarbeit in öffentlichen Parks geeignet seien.