Streit um humanitäre Mission für die Ostukraine

Immerhin haben sich Kiew und Moskau geeinigt, worauf genau, ist aber nicht klar, die Kämpfe um die Großstädte Donezk und Lugansk gehen erst einmal weiter

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Die ukrainische und die russische Regierung nehmen jeweils für sich in Anspruch, eine gemeinsame humanitäre Mission für den Donbass initiiert zu haben. Darauf gedrängt hatte jedenfalls des längeren Moskau, das den Vorschlag auch dem UN-Sicherheitsrat vorgelegt hatte, während man in Kiew fürchtete, es könne ein Vorwand für die Entsendung russischer Truppen sein. Erst vor ein paar Tagen war von der ukrainischen Regierung gemeldet worden, ohne dass es dafür eine Bestätigung gegeben hatte, ein großer russischer Konvoi habe sich der ukrainischen Grenze genähert, sei dann aber gestoppt worden.

Angeblich in Donezk. Bild: novorossia.su

Nachdem das Internationale Rote Kreuz sich ebenfalls für eine Hilfsmission unter seiner Leitung ausgesprochen und u.a. Bundeskanzlerin Merkel darauf gedrängt hatte, haben sich gestern offenbar beide Seiten geeinigt. Wie der ukrainische Präsident Poroschenko US-Präsident Obama in einem Telefongespräch sagte, würde auch die EU daran teilnehmen, Obama soll die Mitwirkung der USA zugesagt haben, die sich im Unterschied zur EU bislang nicht dafür stark gemacht, sondern auf Sanktionen gesetzt hatte. Gleichzeitig bedankte sich Poroschenko bei Obama, dass Abgeordnete der Demokraten und Republikaner im Repräsentantenhaus den Gesetzesentwurf Ukraine Security Assistance Act eingereicht haben, der eine militärische Unterstützung der Ukraine mit Waffen, Ausbildung und Informationsaustausch der Geheimdienste und eine Aufwertung als "major non-NATO ally" vorsieht. Es handelt sich um einen abgespeckten, nur auf die Ukraine zugeschnittenen Gesetzesentwurf, wie ihn bereits republikanischen Senatoren eingebracht haben. Die über die Ukraine hinausgehenden geopolitischen Interessen werden dort klar benannt (Die Inszenierung des Ukraine-Konflikts durch die USA).

Der russische Präsident Putin hat nach Angaben des Kreml erklärt, man werde einen humanitären Konvoi in die Ostukraine unter der Leitung des ICRC senden. Die staatliche ukrainische Nachrichtenagentur versieht die Meldung vielsagend mit einem Foto eines Konvois von russischen Panzern. Valerii Chalyi vom ukrainischen Präsidialamt machte gleich klar, dass es keine russische humanitäre Mission gebe, die Initiative gehe von Poroschenko aus, Moskau könne sich anschließen. Im Gespräch mit EU-Kommissionspräsident Barroso habe man sich auf "sofortige humanitäre Hilfe" verständigt. Davon ist auf ukrainischer Seite nicht die Rede. Der russische Außenminister Lawrow gibt sich erst einmal "vorsichtig" optimistisch, dass eine "humanitäre Aktion" unter der Leitung des ICRC "demnächst" zustande kommt. Er hoffe, "dass die westlichen Partner keine Steine in den Weg legen", nannte aber nicht, welche er damit meinte.

Interessant sind auch die Nuancen. Das ukrainische Präsidialamt erklärt zum Gespräch von Poroschenko mit Barroso, letzterer habe gesagt, man werde die "Initiative des ukrainischen Präsidenten für eine humanitäre Kommission" unterstützen. Aus Barrosos Büro hört man, dass der Kommissionspräsident in den Gesprächen mit Putin und Poroschenko auf die Einhaltung der "humanitären Gesetze" hingewiesen und seine Sorge über die zunehmenden Opfer unter Zivilisten geäußert habe. Barroso versprach Poroschenko, Gelder für humanitäre Hilfe zu geben, zu Putin soll er gesagt haben, die EU unterstütze internationale Hilfsmissionen für die Ostukraine, warnte ihn aber vor "unilateralen militärischen Aktionen" und äußerte Besorgnis über die russischen Truppenkonzentrationen an der Grenze.

Unklar scheint nicht nur zu sein, wie die Hilfsaktion aussehen, sondern vor allem auch, wann sie stattfinden soll. Für die Bewohner der umkämpften Städte, allen voran von Donezk und Lugansk, wäre dies aber ganz entscheidend, weil die Kämpfe sich immer mehr den Zentren annähern und die Schäden größer werden, viele Menschen, die nicht fliehen konnten, aber von Trinkwasser und Strom abgeschnitten sein sollen. Kiew hat erneut erklärt, nun Donezk eingekesselt zu haben und mit dem Sturm auf die Großstadt, in der sich noch um die 200.000 Menschen aufhalten sollen, zu beginnen.

Das ICRC hat offiziell noch keine Stellungnahme bezogen. Kiew und Moskau werden unterschiedliche Ziele verfolgen. Während Moskau bestrebt sein wird, den humanitären Konvoi möglichst schnell zu schicken, um damit auch die Kämpfe zu reduzieren bzw. den Separatisten zu helfen, nachdem ein Waffenstillstand seitens Kiew nicht in Aussicht steht, obgleich Poroschenko gegenüber Barroso seine Bedingungen dafür noch einmal erklärte, dürfte Kiew darauf setzen, zuerst die beiden Großstädte von der Kontrolle durch die Separatisten zu befreien. Lawrow sagte ebenfalls gestern: "Es entsteht der Eindruck, dass das Ziel der so genannten Anti-Terror-Operation darin besteht, den Südosten dem Erdboden gleichzumachen und alle Russen von dort zu vertreiben."

Andriy Lysenko, der Sprecher des Nationalen Verteidigungs- und Sicherheitsrats (NDSC), machte gestern auch klar, dass die Kämpfe nicht eingestellt werden und die Truppen weiter vorrücken, um zu verhindern, dass sich die Separatisten wieder sammeln und neue Waffen aus Russland. Er forderte erneut die friedlichen Bewohner auf, die Städte zu verlassen, es gebe humanitäre Korridore. Gestern hatte er gesagt, viele Separatisten würden in Panik desertieren. Der frisch ernannte Chef der "Volksrepublik Donezk", Alexander Sachartschenko, erklärte wiederum gestern Abend, dass die ukrainischen Streitkräfte demoralisiert seien. Donezk sei noch nicht eingekesselt, man plane eine große Gegenoffensive. Man sei weiterhin zu einem Waffenstillstand bereit, aber nur, um einen humanitären Korridor zu schaffen. Durch den Beschuss des Hochsicherheitsgefängnisses in Donezk sei ein Gefangener getötet worden. 105 hätten fliehen können, 23 habe man bereits wieder eingefangen.

Um 19 Uhr meldete die Antiterroroperation (ATO) auf der offiziellen Facebook-Seite, dass es viele Angriffe seitens der Separatisten gebe. Sie würden den Vormarsch der ukrainischen Streitkräfte verhindern wollen. Interpretiert wird dies, dass die Separatisten ausbrechen wollen. Der Kommandeur des Azov-Bataillons, Andrii Beletskyi, berichtete, Donezk und Lugansk seien noch nicht vollständig eingekesselt. Er erwartet, dass die Einnahme Wochen dauern könne.