Sturmfluten im Sonnenstaat

El Niño macht der High- und Low-Tech-Industrie Kaliforniens einen Strich durch die Rechnung

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Alle Bilder: S. Krempl

Neben dem großen Geld ist das gute Wetter eine der Hauptattraktionen, die Ingenieure, Programmierer und Entwickler in die Computerindustrie Silicon Valleys zieht. 264 Sonnentage im Jahr, ausgeglichene, frühlingshafte Temperaturen im Sommer und Winter, Palmen und Orangenbäume im Garten - das Wetter Kaliforniens hat tatsächlich viele angenehme Seiten. Nicht daß ein Angestellter der High-Tech-Industrie je Zeit und Gelegenheit hätte, den sonnengebräunten Teint zu pflegen. Sieht man braungebrannte Gesichter im Valley, dann gehören sie entweder Mexikanern oder Indern. Dennoch nimmt man den Sonnenschein einfach als gegeben hin und lebt mit der dunklen Brille auf der Nase.

The weather attracts big brains from cold climates, though most people who come here for the weather work so hard they rarely get to see the sunshine.

Po Bronson in WIRED 6.01 (1/98)

Um so härter trifft die Bay Area und ganz Kalifornien momentan eine Sturmserie, die heftige Wolkenbrüche und Böen mit Windgeschwindigkeiten bis zu 100 km/h vom Pazifik her ins Landesinnere führt. El Niño ist die Ursache für das ungewöhnliche Wettergeschehen, eine Erwärmung des Pazifiks auf einer riesigen Fläche zwischen Australien, Süd- und Nordamerika, die auf der asiatischen Seite zu Dürren und auf den äquatorabgelegenen Küstenstrecken des amerikanischen Kontinent zu heftigem Niederschlag führt. "Das Christkind" - der Name wurde dem Wetterpänomen von peruanischen Fischern verliehen, weil ihnen in El-Niño-Jahren immer zur Weihnachtszeit die das warme Wasser scheuenden Meerestiere ausblieben - ist zwar bereits seit dem 16. Jahrhundert bekannt, richtige Beachtung bei Metereologen fand das alle paar Jahre in unterschiedlicher Stärke auftretende Wetterphänomen aber erst bei seiner letzten gewaltigen Ausprägung 1982/83. Schon damals hatte Kalifornien einen ausgesprochen nassen Winter. Doch im Zusammenhang mit dem allmählichen Anstieg der Wassertemperaturen der Weltmeere im allgemeinen ließ die diesjährige besonders starke Erwärmung des Pazifik noch Schlimmeres erahnen. Zu Beginn des Jahres wurden große Bereiche Kanadas durch Kälte und Eisregen lahmgelegt (siehe John Horvath: In Kanada schlug der Winter zu - und auch das Internet litt darunter), jetzt hat es Kalifornien erwischt.

Jede Zeitung und jeder Fernsehkanal in den Vereinigten Staaten hatte deswegen bereits im Sommer vergangenen Jahres Specials mit Warnungen vor einem überaus stürmischen Winter vor den Lesern bzw. Zuschauern ausgebreitet, doch wider Erwarten war der Dezember 1997 in Kalifornien ausgesprochen trocken. Als sich bis Ende Januar noch kein ungewöhnlicher Niederschlag eingestellt hatte, waren selbst die ersten Metereologen etwas in Verlegenheit über den Hype rund um El Niño geraten.

Anfang Februar kam dann die große Wetterwende: Regen, Regen, Regen gehören seitdem zum Standardvokabular der Wetterfrösche, und Land unter ist die Folge: ausgetrocknete Flußbetten verwandeln sich in reißende Ströme, Flüsse treten über die Ufer, fluten riesige Landstriche und überschwemmen Tausende von Häusern, Schlammlawinen wälzen sich die Küstenberge hinunter und begraben alles unter sich, was sich ihnen in den Weg stellt. Zusätzlich nagt der durch Wind und Wetter aufgewiegelte Ozean mit ungewöhnlich hohen Wellen an der bizarren Küstenlinie und bringt so manches küstennahe Haus wortwörtlich an den Rand des Abgrunds. Außerdem hat sogar ein Mini-Tornado das Valley heimgesucht und auf dem militärischen Sperrgebiet in Mountainview eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Insgesamt mußten wegen des außer Rand und Band geratenen Wetters bereits 5000 Menschen zwischen San Francisco und Monterey evakuiert werden, 1050 Häuser sind zerstört und 8 Tote zu beklagen. Der kalifornische Gouverneur Pete Wilson hat für das halbe Land den Katastrophenzustand ausgerufen, da ein Abflauen der El-Niño-Stürme vor März nicht abzusehen ist.

Der heftige Winterregen trifft Kalifornien um so härter, weil das Land in keiner Weise auf die ungewohnten Witterungsverhältnisse eingestellt ist. Man rechnet hier zwar ständig mit einem Erdbeben, auch wenn jeder hofft, daß es die andere Seite der Bay oder gar die andere Hälfte des Landes trifft. Doch auf Dauerregen in Monsun-Manier ist hier nichts und niemand vorbereitet, weder die Natur noch die Bewohner. Die Berge etwa, die den Küstenlandstrich von der Ebene Silicon Valleys zwischen San Jose und San Francisco trennen, sind ein erdgeschichtlich sehr junges Gestein und deswegen besonders leicht von Wind und Wetter beeinflußbar. Bei jedem härteren Regenguß lösen sich so regelmäßig Schlamm- und Geröllschichten und sacken bis in die dicht besiedelten Tal- und Küstengegenden ab. Viele Bäume sind zudem "Evergreens", so daß die ungewohnten Regenfälle genauso wie die Sturmwinde eine volle Angriffsfläche vorfinden. Pinien und Eukalyptusbäume werden durch die von El Niño angeheizten Stürme wie Streichhölzer geknickt, was wiederum nicht nur Häuser und Autos trifft, sondern in schöner Regelmäßigkeit auch Telefon- und Stromleitungen.

Trotz der Erfolge im High-Tech-Sektor ist in den USA die Infrastruktur im Bereich der technologischen Basisversorgung alles andere als zufriedenstellend. Telefonkabel und Stromleitungen etwa werden nur in den Ballungsgebieten von Großstädten unterirdisch verlegt, so daß fast jeder umstürzende Baum beim Streifen eines Leitungsmastes eine ganze Nachbarschaft zu Kerzenschein und Fernsprechlosigkeit verdammen kann. 454.000 Häuser waren beispielsweise allein am vergangenen Donnerstag in Silicon Valley und Umgebung ohne Saft, obwohl die örtliche Stromgesellschaft Pacific Gas & Electricity (PG&E) 5000 Arbeiter für den Katastropheneinsatz eingesetzt hatte. Da in der Bay Area zudem viele Straßen und Highways unter dem Meeresspiegel liegen und die Wassermassen nirgends abfließen konnten, war das Flutchaos am Morgen nach dem Sturm perfekt. Nichts ging mehr, vor allem in den generell schon alle Straßen verstopfenden Rush-Hour-Zeiten. Wer normalerweise für seine fünf Meilen zum Arbeitsplatz vierzig Minuten im Stau steckt, konnte dieses Mal mit vier bis fünf Stunden rechnen. Ganze Firmenkomplexe waren zudem von der Außenwelt wegen Überflutung der näheren Umgebung abgeschnitten, so daß etwa das vom Regen hart getroffene Sun Microsystems das gehobene Management mit dem Hubschrauber einfliegen ließ.

We're reinventing the way the world communicates. We're transforming the American economy. We've got keyboards and mice and high-speed data lines and cell phones. Then, the rain comes and suddenly we're no smarter than a car that's in four feet of water, a road that's closed from mudslides and a traffic jam of epic proportions.

Mark Simon im San Francisco Chronicle vom 4.2.98

Tausende andere Angestellte erprobten sich lieber gleich im ansonsten in der Enge des Valleys verpönten Telecommuting - zumindest, solange noch eine Verbindung zum Internet zu bekommen war. Falls Zuhause zufälligerweise Strom und Telefon noch funktionierten, konnte sich der unfreiwillige Telearbeiter zumindest auf zahlreichen Websites über das gesamte Chaos rund um ihn herum auf dem Laufenden halten. Ob Straßensperren, Unfallstellen oder das durchschnittliche Schleichtempo auf den noch befahrbaren Highways - jedes Verkehrsereignis wird für das Silicon Valley bis ins kleinste Detail und mit minütlichen Updates im Web dokumentiert oder per Live-Kamera veranschaulicht. Und wer die Couch dem harten Stuhl vor dem Computer vorzog, konnte sich auf jedem Lokalsender rund um die Uhr Flutwarnungen, Katastrophenberichte und die Namen der geschlossenen Schulen und Behörden vor Augen führen.

Aber selbst die unter den Infrastrukturdefiziten im Low-Tech-Bereich Leidenden mußten nicht völlig verzweifeln. Wer sich beispielsweise trotz der unmöglichen Verkehrsverhältnisse früh auf den Weg ins Büro machen wollte und wegen eines Stromausfalls seinen Radiowecker nicht stellen konnte, durfte sich kostenlos durch einen Weckruf der PG&E aus den Träumen reißen lassen. Und falls das Telefon seinen Dienst versagte, konnte sich der moderne Kommunikationsabhängige seine Anrufe auf einen Anrufbeantworter der lokalen Telefongesellschaft Pacific Bell umleiten lassen - zwei Wochen lang und gratis. Da El Niño nach den Vorhersagen der Metereologen auch in den kommenden Wochen einen Sturm nach dem nächsten in Richtung Kalifornien schicken soll, kann man gespannt bleiben, welche anderen Auswüchse die Konfrontation von ausdifferenzierter High-Tech-Industrie mit den Naturgewalten hervorbringt.

Während allerdings (noch) kein Marktbeobachter in naher Zukunft eine Preissteigerung im Computerbereich als Folge von sturmbedingten Produktionsausfällen erwartet, sind die Schäden in den nahen landwirtschaftlich ausgerichteten Küstengegenden schon heute verheerend. Erdbeeren, Broccoli und Salat stehen unter Wasser oder sind mit Schlamm bedeckt, und die bisherigen Schäden werden auf mindestens 6 Millionen Dollar geschätzt. Die betroffenen Farmer rechnen aber mit weiteren schwerwiegenden Einbußen für die 24,5 Milliarden umsetzende Landwirtschaftsindustrie des "Sonnenstaates." Die wirtschaftlichen Schäden des letzten großen El Niños 1982/83 wurden weltweit mit rund 13 Milliarden Markt beziffert. Der momentane "El Niño Grande" könnte seinen Vorfahren noch bei weitem übertreffen. Fluten in Kalifornien, Dürre und Feuersbrünste in Asien und Indonesien - die Klimaveränderungen werden immer offensichtlicher. Und der "lange Boom" zeigt seine noch längeren Schattenseiten.