Südkorea: Squid Game in Corona-Zeiten

Gewerkschafter Yang Kyung-soo bei seiner Festnahme. Bild: KCTU

In Südkorea werden die Gewerkschaften aus Not kämpferisch. Staatliche Repression unter dem Deckmantel der Pandemiebekämpfung

Squid Game, die bislang meistgesehene Serie des Unterhaltungskonzerns Netflix, ist in aller Munde. Hierzulande fragt sich das Feuilleton etwa zurzeit, ob die Sendung aufgrund ihrer bluttriefenden Gewaltexzesse nicht auf den Index gehöre, wo doch schon kleine Kinder auf den Pausenhöfen die Szenen nachspielten — simulierte Hinrichtungen inklusive.

Wohlwollende Kritiker wiederum sehen in dem neusten Werk des Regisseurs Hwang Dong-hyuk eine genauso kunstvoll wie ätzende Kritik an den herrschenden Verhältnissen der südkoreanischen Klassengesellschaft.

Der Plot besteht immerhin darin, dass sich das Kapital, verkörpert durch eine kleine Clique schwerreicher Perverslinge, daran berauscht, eine ausgewählte Zahl an Abgehängten, in finanzielle Not geratene Menschen in einer Reihe an mörderischen Spielen gegeneinander antreten zu lassen.

Für den millionenschweren Preis setzen diese freiwillig ihr Leben ein und müssen sich beim Versagen im Spiel von bizarr maskierten Schiedsrichtern über den Haufen schießen lassen. Game over.

Die Hauptaufgabe der Maskenträger besteht derweil darin, den Mitspielenden ein einziges Mal in deren Leben eine echte "Chancengleichheit" beim Totgeschlagenwerden und Einandertotschlagen zu gewährleisten. Sarkastischer kann man das Verständnis von Gleichheit des neoliberalen Sozialdarwinismus unserer Tage wohl kaum abbilden.

In Südkorea ist Squid Game vielleicht gerade deswegen so erfolgreich, weil es die brutale Realität des Landes widerspiegelt, wie der Gewerkschafter Lee Chang-kun vor wenigen Tagen in einem Beitrag für das Magazin Jacobin mutmaßte.

Lee war federführend am Streik der Automobilarbeiter des Großkonzerns Ssangyong beteiligt gewesen, dessen blutige Niederschlagung 2009 nach 77-tägiger Fabrikbesetzung durch die Arbeiter international für Schlagzeilen gesorgt hatte.

Die gewaltsame Repression und das Schicksal der Arbeiter und ihrer Familien hatte wiederum den Regisseur Hwang Dong-hyuk nach eigener Aussage zu der Serie Squid Game inspiriert: Auch bei deren Hauptakteur, Gi-hun, handelt es sich um einen ehemaligen Automobilarbeiter, der aufgrund seiner Streikaktivitäten bei Dragon Motors, eindeutig eine Chiffre für Ssangyong Motors, seinen Job verloren hatte.

Als jemand, der den Ssangyong-Streik und seine Folgen miterlebt hat, fühle er sich nach dem Anschauen von Squid Game daher frustriert und innerlich leer, so der reale Arbeiter Chang-kun über die Geschichte des fiktiven Arbeiters Gi-hun.

Denn: "Die Ungleichheit in meinem Land scheint nicht mehr umkehrbar zu sein, die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer, während die Geschichte der Ssangyong-Arbeiter ein Wegwerfartikel in einer Netflix-Show ist."

Vom Squid Game zum Arbeitskampf

Für Chang-kun ist diese Show daher auch nur eine Art Unterhaltung, die von den echten sozialen Problemen Südkoreas letztendlich ablenke: "Die Menschen in Südkorea lieben Squid Game, aber ein Großteil des Landes verschließt immer noch die Augen vor der Tatsache, dass wir eine der wenigen Demokratien sind, in denen die Regierung Arbeitnehmer im Kontext eines Arbeitskampfes auf Schadenersatz verklagen kann."

Im Falle der Ssangyong-Beschäftigten sind so weiterhin rund 2,7 Mrd. koreanische Won (2,3 Millionen US-Dollar) Schadensersatzforderungen - zuzüglich jährlicher Zinsen und täglicher Strafen - anhängig.

Dass die Arbeitsrealität der südkoreanischen Gegenwart auch anderweitig erdrückend ist, zeigte sich am 20. Oktober, als sich über 80.000 Mitglieder des Koreanischen Gewerkschaftsbundes (KCTU) ungeachtet der Repressions- und Sanktionsdrohungen durch die Regierung und lokalen Autoritäten im ganzen Land auf die Straße gingen.

50.000 Arbeiter aus allen Branchen, die unter dem Dach des KTCU organisiert sind, legten zudem die Arbeit nieder: Metallarbeiter, Bauarbeiter, Pflegekräfte aus dem Gesundheitswesen.

Besonderes Gewicht hatte auch die Beteiligung von nicht regulär Beschäftigten, Zeitarbeitern und Scheinselbstständigen, insbesondere aus dem Dienstleistungssektor. In Südkorea beträgt deren Anteil über 40 Prozent aller Lohnabhängigen.

Deren Situation hat sich durch die Lockdown-Politik, durch die als Pandemiebekämpfung verkleideten Repressionsmaßnahmen, die in Südkorea genauso wie anderswo sich noch zugespitzte Umverteilung von unten nach oben und grundsätzlich durch die als "Coronakrise" betitelte Depression noch eklatant verschärft.

Unter den Arbeitern der Lieferdienste führte die Nachfragesteigerung durch die gesetzlich verordneten Ladenschließungen zu zahlreichen Todesfällen — aufgrund von Überarbeitung.

Darum war es auch kaum ein Zufall, dass vor einem knappen Jahr die KCTU-Gewerkschaftsmitglieder ihren vorherigen Vorsitzenden für dessen korporativen Kuschelkurs mit Konzernen und Regierung abwählten und mit Yang Kyung-soo erstmals einen Zeitarbeiter an die Spitze gewählt haben, also einen Vertreter des besonders präkarisierten Proletariats.

Ein Schritt, der vom Establishment als Kampfansage verstanden worden war. Erst recht, da Yang ankündigte, fundamentale, aber in Südkorea weiterhin fehlende Arbeiterrechte erkämpfen und hierfür einen Generalstreik vorbereiten zu wollen.

Nachdem die südkoreanische Regierung vorerst versucht hatte, die anschwellenden Sozialproteste und Kundgebungen mit den Methoden des "Social Distancing" im Namen des "Infektionsschutzes" einzuschränken, eskalierten die staatlichen Autoritäten vollends die angespannte Situation.