Syrien: Auf dem Weg zum "Failed State"?

Trotz Annans Friedensplan war das Land nie weiter vom Frieden entfernt

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Eine Wahlfarce, zwei gewaltige Selbstmordattentate in der Hauptstadt und eine Bürgerkriegsgefahr, vor der nun auch Friedensbotschafter Anan warnt eine vorerste Bilanz dessen, was in den vergangenen vier Tagen in Syrien geschah.

Kofi Annans Plan ist die beste aller Optionen, um einen friedlichen Ausgang des Konflikts in Syrien herbeizuführen. Daher muss sie gelingen. So lautete noch vor drei Wochen die Überzeugung der syrischen Opposition um Haytham Manna (vom Bündnis "Nationales Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel"), Louay Hussein ("Aufbau des Staates") oder Michel Kilo ("Das demokratische Forum"). Sie alle verwahren sich strikt gegen ausländische Interventionen oder die Bewaffnung der Aufständischen, aus Furcht vor einem langen blutigen Bürgerkrieg.

Vor einer Woche aber schrieb Louay Hussein an Annan einen Brief mit der Bitte, gegen die Verhaftungen friedlicher Aktivisten zu intervenieren - "sonst wird die Zeit vorbei gehen und der politische Prozess, den Sie anzustrengen versuchen, wird keine Ansprechpartner mehr außerhalb der Gefängnisse finden und keine Partei wird noch Vertrauen in das Regime, oder sogar in die Möglichkeit einer friedlichen Lösung haben."

Anans Plan: Zu schön, um wahr zu sein

Was war passiert? Im Grunde nichts. Denn das Vertrauen in das Regime war schon lange vor Annans Initiative geschwunden - auch wenn dies viele Oppositionelle in ihrem verzweifelten Bemühen um eine friedliche Wende geradezu verdrängen wollten. Doch die Diktatur pocht schon zu lange und zu eisern auf das Szenario von den Terroristen, gegen die das Land zu verteidigen wäre - und verhaftet parallel den liberalen und populären Scheich Mouaz al-Khattib, der einen "zivilen demokratischen Staat" fordert und gegen eine Militarisierung des Konfliktes ist.

Doch Mouaz al-Khattibs Verschulden ist, dass er Dinge beim Namen nennt. So schrieb er, der seit 1995 nicht mehr predigen darf, bereits 2007 auf seiner Webseite:

(Dieses Regime) hat das Leben, die Religion, die Würde und sogar die Menschlichkeit in den Seelen verschlungen. (...) Es hat hingerichtet, ermordet, exiliert, geplündert, erstickt, konfisziert und nationalisiert.

Entsprechende Skepsis unter Syrern löste denn bereits der erste der sechs Punkte von Kofi Annans Plan aus: "Das Regime in Damaskus verpflichtet sich, in Zusammenarbeit mit Annan einen politischen Dialog mit der Opposition aufzunehmen. Dabei sollen die Forderungen der Demonstranten zur Sprache kommen."

Wie berechtigt das Misstrauen war, bewiesen zuletzt die Parlamentswahlen vom 7. Mai. Es waren die ersten seit 50 Jahren, die nicht mehr dem verfassungsrechtlich festgeschriebenen Führungsanspruch der Baath-Partei unterlagen. Doch die Mehrparteienwahl war reine Farce: Die Angetretenen waren derart gleichgeschaltet mit dem Regime, dass selbst die eher regimenahe libanesische Tageszeitung "Al Akhbar" titelte: "Syriens Parlamentswahlen: Die gute alte Baath".

Hexenkessel und Gerüchteschleuder

Dennoch: Was für die Aufständischen so klar ist, ist es für andere Bevölkerungsteile nicht. Viele halten sich aus dem Aufstand heraus, zumeist aus Angst vor der Zukunft. Und wer sich auf arabischsprachigen Internetseiten umsieht, kann sie verstehen. Wer etwa ist "Jabhat al Nusra" ("Front des Sieges")?, fragen derzeit viele verunsichert. Die Gruppe veröffentlichte unlängst ein verstörendes Video , in dem sie die Hinrichtung einer offensichtlich von ihr (aus unbekannten Gründen) festgenommenen Frau zeigt.

Die Aufnahmen unterlegte sie mit Gesängen, die aus al-Qaida-nahen Videos bekannt sind. In einem anderen Video stellt sich eine Brigade vor, deren Kommandant vor zwei Gewehren posiert , deren Anordnung verdächtig an das Logo von al-Qaida erinnert.

Und schließlich die Meldung, die auch die internationale Presse beschäftigte: "Libanons meistgesuchter Terrorist", Abd al-Ghani Jawhar, soll um den 20. April in Syrien umgekommen sein . Angeblich plante Jawhar, einer der Anführer der extremistischen Fatah al-Islam, einen Anschlag, tötete sich aber bei der Fehlzündung einer Bombe selbst.

Kurz darauf machten sich Zweifel breit: Jawhar, hieß es, sei nicht zum ersten Mal für tot deklariert worden und er soll sich, wie viele andere Fatah al-Islam-Mitglieder, seit Jahren in syrischem Polizeigewahrsam befunden haben. Auch die libanesischen Behörden begannen sich zu wundern: Das von ihm nach seinem Tode veröffentlichte Foto sei drei Jahre alt - dies widerspräche der Praxis von Jihadisten, die beim Tod eines Mitgliedes stets dessen aktuellstes Foto publizieren würden.

Komplexe Religionslandschaft

Sich in diesem Hexenkessel zurecht zu finden, ist tatsächlich alles andere als leicht. Yezid Sayigh vom Carnegie Middle East Center in Beirut weiß dies und warnt dennoch vor dem Fehler, den viele Syrer selbst begingen, indem sie Begriffe wie "islamistisch", "salafistisch" und "al-Qaida" panisch in einen Topf werden würden.

"Die Realität ist komplexer", sagt Sayigh, dessen Forschungsschwerpunkt auf arabischen Armeen und Widerstandskämpfern liegt .

Natürlich gibt es Salafisten in Syrien. Aber man kann Salafist sein, ohne deshalb einen jihadistischen Hintergrund zu haben oder al-Qaida anzugehören. Die Mehrheit der syrischen Rebellen ist überdies nicht einmal salafistisch, sondern schlicht traditionell-religiös.

Ähnliche Schlüsse zieht Joseph Holliday, der für das Washingtoner Institute for the Study of War die sogenannte Freie Syrische Armee studiert. In seiner detaillierten, Anfang März erschienenen Analyse , bezweifelt er nicht, dass al-Qaida-nahe Gruppierungen im Land seien.

Die überwiegende Mehrzahl der Brigaden besteht aber aus syrischen Graswurzel-Kämpfern, die ideologisch nichts mit al-Qaida zu tun haben und die sich selbst bewaffnen, durch Schwarzmarkt oder Schmuggel. Sie verfügen nur über kleine Waffen.

Zugleich leugnen weder Sayigh noch Holliday die Gefahr eines wachsenden Extremismus. Wenn der Freiheitskampf weiterhin blutig niedergeschlagen und die Rebellen aus jihadistischen Quellen mit Waffen versorgt würden, steige das Risiko sehr wohl.

Kleinkrieg statt Großinvasion?

Ob es dazu kommt, wird sich zeigen. Dass die Rebellen baldige offizielle Unterstütztung erhalten werden, glaubt Syrienexperte Joshua Landis von der Universität in Oklahoma jedenfalls nicht. Sowohl der Westen als auch seine Verbündeten am Arabischen Golf würden zögern. Syriens Opposition biete keine überzeugende alternative Führungsfigur, sondern ein Armutszeugnis an Zerstrittenheit. Zugleich stünden die USA vor Präsidentschaftswahlen. Die US-Bürger aber hätten die Nase voll von Szenarien à la Afghanistan oder Irak und so scheue Obama jegliches Eingreifen in Syrien.

Auch Saudi-Arabien und Qatar hielten sich trotz ihrer Ankündigung, Syriens Aufständische zu bewaffnen, bedeckt, da sie nicht wüssten, wen sie in großem Stil bewaffnen sollten. "Im kleinen Stil hingegen, durch Geld und Hilfe, können sie jedoch den Aufstand antreiben", sagt Landis.

War dies bei den gestrigen Doppelanschlägen der Fall? Vor der wichtigen Zentrale der sogenannten Palästina-Abteilung des Geheimdienstes im Viertel Qazaz in Damaskus waren zwei Autobomben kurz vor acht Uhr morgens explodiert - zu einer Zeit, da Angestellte und Schulkinder unterwegs sind. Über 1000 Kilogramm Sprengstoff sollen eingesetzt, mindestens 55 Menschen umgekommen und über 370 verletzt worden sein, teilte das syrische Innenministerium mit. Politexperte Landis nickt:

Wer auch immer dahinter steckt: Fakt ist, dass Autobombenanschläge leider eine bewährte Praxis sind, um Aufstände anzuheizen, weil sie den Staat schwach und inkompetent erscheinen lassen und das Leben derer, die hoffen, die Revolution ignorieren zu können, aus den Fugen bringen.

Dies gelte umso mehr für die Hauptstadt, in der nach wie vor viele versuchen, der mehrheitlich von der Landbevölkerung und von den Ärmeren getragenen Revolte, schlicht aus dem Weg zu gehen.

Die Opposition sieht unterdessen den Drahtzieher im Regime. Und auch dies entbehrt nicht der Logik, denn tatsächlich macht vor allem eins stutzig: Der Anschlag galt einer bedeutenden Geheimdienstzentrale, und vor einer solchen eine Tonne Sprengstoff im scharf überwachten Damaskus zu platzieren, erfordert Logistik und Professionalität. Das Unterfangen misslang aber insofern: Es kamen fast nur Zivilisten ums Leben. Dies freilich treibt den Keil zwischen die pro- und contra-Revolte gespaltene Gesellschaft noch tiefer, was der Regimepropaganda - die seit jeher warnt: "Entweder wir oder Bürgerkrieg" - durchaus bekommen würde.

Welche Theorie man auch ausweiten, welcher Seite man auch Glauben schenken möchte: Syrien wirkt dieser Tage wie ein Puzzle, in dem so ziemlich alles und alle Platz finden. Außer jene, die vor 14 Monaten doch alles auslösten: Die Rufer nach den Menschenrechten.

Unlängst betrat allerdings ein neuer Akteur überraschend und mithilfe saudischer Gelder die Bühne: Nofal al-Dawalibi , der Sohn von Maarouf al-Dawalibi, der in den fünfziger Jahren noch auf demokratischem Weg zum Premierminister gewählt wurde, nach Machterlangung der Baath-Partei aber ins saudische Exil mußte. Sein Sohn Nofal erklärte nun, eine Übergangsregierung gebildet zu haben, die aus 35 Ministern bestehen soll, deren Namen aus Sicherheitsgründen geheim gehalten würden.

Ziel der Übergangsregierung sei es, eine "direkte internationale Militärintervention" durchzusetzen, den Einsatz der Kämpfer zu koordinieren und "den Willen des souveränen Volkes" zu vertreten. Ziele, die auch der Syrische Nationalrat (SNC) verficht. Von diesem allerdings distanzierte sich al-Dawalibi: Der SNC repräsentiere nicht das syrische Volk. Inwiefern seine Übergangsregierung dies tue, zumal sie die Intervention fordert, die so viele ablehnen, erklärte er nicht.

Nach fast anderthalb Jahren Blutvergießen, x-neu formierten Oppositionsbündnissen, den Initiativen der Arabischen Liga und der von Kofi Annan scheint nur eines offenkundig: Weder das Regime noch die Rebellen werden nachgeben. Unterdessen zerfällt das Land, politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich.

"Vielleicht soll genau das Syriens Schicksal sein?", fragt der 72-jährige Dissident Mahmoud Abd al-Ahmad und wirkt dabei ebenso zynisch wie realistisch. Von China und Russland über den Iran und Israel bis zur Türkei und dem Westen - jeder habe Interesse an dem geostrategischen Knotenpunkt. Doch keiner wolle direkt eingreifen. "Ein geschwächtes, aber noch existentes System, mag da vielen bis auf weiteres als die simpelste Lösung erscheinen."