Syrische Flüchtlinge: Das Risiko, eine Generation verloren zu geben

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Fernunterricht funktioniert noch weniger in den Flüchtlings-Behelfsunterkünften, wo Millionen leben. Analphabetismus "erschreckend angestiegen"

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À propos "Krieg der Köpfe", der bis neulich ein großes Thema war beim Kampf gegen den Terror, gegen extremistische Ideologien und Blutvergießen: Was passiert mit der Generation, die nun in Flüchtlingslagern heranwächst?

Die Dimension des Problems ist beachtlich. Weltweit zählt eine norwegische Organisation 50,8 Millionen Menschen als sogenannte Binnenflüchtlinge. Ende 2019 flüchteten 45,7 Millionen Flüchtlinge an andere Orte in 61 Ländern, um kriegerischen Konflikten zu entkommen. Weitere 5,1 Millionen mussten wegen Naturkatastrophen ihr Zuhause verlassen, so die kürzeste Zusammenfassung des aktuellen Berichts des Monitoring Center des norwegischen Flüchtlingsrates (Norwegian Refugee Council) - IDMC, das sich auf Datenanalysen von Binnenflüchtlingen spezialisiert hat.

Der aktuelle IDMC-Lagebericht (auch hier) verzeichnet 33,4 Millionen neue "internal displacements" (Binnenflucht) in 145 Ländern und Regionen im Jahr 2019. Schaut man sich die Info-Grafik mit der Überschrift "Konflikt und Gewalt" an, so findet sich Syrien ganz oben. Rund 1,85 Millionen neue Flüchtlinge oder Vertriebene zeigt der Balken an. Der Bericht erklärt dazu:

(…) in den häufigsten Fällen (ist die Flucht, Einf. d. A.) das Ergebnis der Militäroffensiven im Nordosten und Nordwesten des Landes. Ungefähr 6,5 Millionen Menschen lebten am Ende des Jahres in internal displacements. Das ist die höchste Zahl weltweit.

IDMC-Bericht

"Internal displacements" ist schwer in einem ebenso kurzen deutschen Begriff zu fassen. Gemeint ist damit eine ganze Reihe von Behelfsmöglichkeiten für die Vertriebenen bzw. Geflüchteten. Im besten und wohl seltenerem Fall finden die Flüchtlinge eine eigene Unterkunft, im nächstbesten Fall bei Verwandten, Freunden oder Bekannten, im schlechteren Fall in mehr oder weniger gut betreuten und versorgten Flüchtlingslagern und in den elenden Fällen in Rohbauten, Ruinen oder auf offenem Feld.

Politisch als Mittel zum Zweck missbraucht

Ähnlich sind sich die Schicksale in einem: In der Hierarchie der Wichtigkeiten stehen sie ganz unten, sie haben keine politische Priorität. Zugleich werden sie als Menge oder Masse politisch instrumentalisiert.

Anschauungsmaterial für diese Verzweckung lieferte die türkische Regierung Anfang März dieses Jahres mit einer politischen Erpressung, der orchestrierte Transporte und Manöver mit Flüchtlingen an die türkisch-griechische Grenze zugrunde lagen (Flüchtlinge in der Falle). Die Erpressung funktioniert freilich, weil die Flüchtlinge in der EU und in Deutschland ebenfalls politisch instrumentalisiert werden. Sie sind politisches Kapital der neuen Rechten.

Was der türkische Journalist Mahmut Bozarslan aktuell zur Situation der syrischen Flüchtlinge im Süden der Türkei berichtet, kann man als einen Zoom zur globalen Übersicht des IDMC-Lageberichts lesen. Im Blick hat er Lebensumstände von syrischen Flüchtlingen im kurdischen Süden der Türkei, in der Provinz Dyarbakir.

Überlebenskämpfe zu Corona-Zeiten

Etwa 22.000 sind in der gleichnamigen Stadt untergebracht, die Region bietet sich wegen ihre Nähe zu Syrien als "Flüchtlingsauffanggebiet" an, schreibt Bozarslan in al-Monitor. Laut seiner Biografie hat Bozarslan auch für die regierungsnahe türkische Zeitung al-Sahab gearbeitet. Man könnte also erwarten, dass er nicht blindlings einseitig berichtet. Insgesamt beherbergt die Türkei 4 Millionen Flüchtlinge aus Syrien, die über die Türkei verteilt sind - "und zu den Verwundbarsten angesichts der Sars-CoV-2-Epidemie gehören".

Nach derzeitigem Informationsstand ist es aber nicht die gefürchtete Verbreitung des Virus, das das Leben der Flüchtlinge in größte Schwierigkeiten bringt, sondern die Maßnahmen und politischen Prioritäten der Regierung in Ankara. Das Ergebnis ist kurzgefasst: Den Flüchtlingen brechen Verdienstmöglichkeiten weg. Ihre Jobs in informellen Sektoren sind weggebrochen. Geschildert werden Fälle, wo ein Verdiener Geld für zwei Familien heranschafft.

Offiziell erhebt die Türkei den Anspruch, alle Bewohner ihres Landes gleichermaßen zu versorgen. Nach dem al-Monitor-Bericht hat es aber praktisch den Anschein, dass die Gesundheitsversorgung von einem zynischen "social distancing" gekennzeichnet ist: Die Hilfe bekommen die anderen. Auch bei der Verteilung der Nasen-Mundschutzmasken sind sie die letzten in der Reihe. Bislang reichen die Vorräte der Schutzmasken nicht so weit.

Die Schule ist abgesagt

Schlimm steht es auch um den Unterricht. Die Schule ist abgesagt. Ist der Unterricht für Kinder aus Flüchtlingsfamilien schon seit vielen Jahren ein Problem, das regelmäßig auf der Agenda von UN-Flüchtlingshilfsorganisationen oder NGOs auftaucht, so ist die Situation noch schwieriger geworden. Der Fernunterricht braucht einen funktionierenden Rechner, eine gute Internetverbindung und gute Sprachkenntnisse.

Laut den Umständen, die Bozarslan für al-Monitor schildert, verfügt längst nicht jede Familie über einen Computer. Offenbar wählen einige das Smartphone, um sich aus der Ferne unterrichten zu lassen, so ein geschilderter Einzelfall eines Erwachsenen, der allerdings von keinen guten Ergebnissen berichtet.

Die Verhältnisse, die von Binnenflüchtlingen in Syrien berichtet werden, sind ähnlich, was die Ausbildung der Jüngeren angeht. Das Ausmaß an Analphabetismus in der Region sei auf eine erschreckende Weise angestiegen, besonders bei den Bewohnern von Flüchtlingscamps, erzählt ein Oppositioneller aus dem Norden Idlibs. Interviewt wurde er von Aymenn Jawad Al-Tamimi, der gute Kontakte zu Bewohnern, Militanten und Funktionären in Idlib hat, was sich schon in mehreren Interviews bemerkbar machte.

Heranwachsende und Frauen, die noch nie in der Schule waren

Sie geben, jenseits der politischen Lager und Grabenkämpfe, immer auch Einblick in die Lebensweisen, die von bekannten internationalen Medien überhaupt nicht mehr abgedeckt werden. Das ehemalige Vorsitzende eines lokalen Rates in Idlib, Abd al-Majeed Sharif, berichtet im Interview davon, dass "es viele Heranwachsende gibt, die noch nie in der Schule waren, um gar nicht von den Frauen zu sprechen. Der Großteil der Binnenflüchtlinge glaubt, dass man sie nicht mehr unterrichten muss".

Aus Schulen wurden Herbergslager für Binnenflüchtlinge gemacht, damit wurde der Unterricht beendet, so Abd al-Majeed Sharif, er sei aber zuvor schon nicht gut gewesen. Er schildert beengte Verhältnisse, die er mit der Dichte der Bewohner im Gazastreifen vergleicht. Dazu kommen Stromausfälle und große Probleme mit der Wasserversorgung. Die Gesundheitsversorgung sei dergestalt, dass man nur leichten Erkrankungen zurechtkomme. Alle schwierigen Fälle würden in die Türkei gebracht, wobei auch das mit großen Problemen verbunden sei.

Geht es nach Informationen des Guardian, so hat die Türkei laut Angaben von Regierungsvertretern 500.000 Schutzmasken für medizinisches Personal in die USA geschickt. Es müsste also auch ein Reservoir an Schutzkleidung für die medizinische Versorgung von Flüchtlingen in der Türkei geben?

Bislang haben sich die Alarmmeldungen darüber, was passieren könnte, wenn Sars-CoV-2 Flüchtlingslager erreicht, nicht bewahrheitet. Als Begründung werden meist mehrere Faktoren genannt, vorneweg, dass nicht oder kaum getestet wird, dann die starke Abschottung der Lager vom Leben außerhalb, das nun seinerseits durch die Maßnahmen gegen covid-19 stärker abgeschottet ist, sowie das niedrige Durchschnittsalter der Lagerbewohner, unter denen sich viele Kinder befinden.

Angesichts der Entwicklungen, die sich in Corona-Zeiten verschärfen - siehe etwa die gigantische Dollar- und Bankenkrise im Libanon, wo etwa 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge leben, die sich gerade zuspitzt - ist die Situation der Kinder, die in Flüchtlingslagern aufwachsen, ein Grund zu großer Beunruhigung.