Taktik gegen Tories

Virtueller Stimmenhandel zwischen Liberal- und Labour-Wählern soll Konservative in Großbritannien schwächen

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Voteswapping via Internet findet nach den USA jetzt auch in Großbritannien Nachahmer. Für die bevorstehende Unterhauswahl am 7. Juni richtete ein britischer Geschäftsmann die Webplattform Tacticalvoter.net ein. Weit über 50.000 Besucher informierten sich bereits über die Möglichkeiten einer taktische Stimmabgabe. Der Betreiber selbst verfolgt primär ein Ziel: Möglichst viele Tory-Abgeordnete aus dem britischen Unterhaus zu befördern. Bis dato überstand er unbeschadet die Attacken der Konservativen ebenso wie Hackerangriffe.

"1997 wählte ich Labour, aber danach fand ich heraus, dass die Liberal-Demokraten in meinem Wahlkreis eine weit bessere Chance hatten zu gewinnen", ärgert sich Jason Buckley noch heute. 2001 sollte das ganz anders werden, nahm sich der 27-jährige Londoner Geschäftsmann vor. Angeregt von amerikanischen Vorbildern aus dem Präsidentschaftswahlkampf 2000 richtete er unlängst die Website Tacticalvoter.net.

Strategisch wählen

Tories raus, strategisch liberal oder Labour wählen, lautet hier die Devise. Auf der Internet-Plattform kann der Interessierte die Ergebnisse vom Wahljahr 1997 nach Wahlkreisen sortiert abrufen. Eine strategische Wahlempfehlung liefert die Webpage gleich mit. Ein Beispiel: In Greater London, Surbiton & Kingston, gewannen die Liberalen mit einem hauchdünnen Vorsprung gegenüber den Tories ein Mandat. Nur 23 Prozent der Wählerstimmen entfielen 1997 auf die Labour-Party. Einige wenige Stimmen mehr könnten den Tories am 7. Juni einen Unterhaussitz bringen. Die Labour-Party hingegen hätte bei der bevorstehenden Wahl kaum Chancen, vermutet der Website-Betreiber und empfiehlt deshalb, für die Liberalen zu votieren. Wer diesem Gedanken zugeneigt ist, kann nicht nur seine Stimmabgabe danach richten, sondern sich auch via Email mit anderen potenziellen Tactical Voters vernetzen. 50.000 Besucher verzeichnete die Site bis zum 27. Mai. Sechstausend Deals, schätzt Buckley, könnten bis zum Wahltag eingefädelt sein. "Wir können die Tories zehn Sitze kosten", spekulierte er in einem Gespräch mit dem Independent.

Wie in den USA artikuliert sich über derartige Plattformen die Frustration über das jeweilige Wahlsystem. In Großbritannien kommt ein relatives Mehrheitswahlrecht zur Anwendung. Bei der britischen Unterhauswahl erhält dann die stimmenstärkste Partei in einem Wahlkreis automatisch den Sitz im Parlament. Selbst wenn rein rechnerisch Liberal-Demokraten und Labour die Mehrheit haben, kann es deshalb passieren, dass ein Tory ins Unterhaus einzieht. Buckley macht keinen Hehl daraus, dass ihm jeder Tory im Parlament einer zuviel ist. Während die Konservativen einen einheitlichen Block bilden, besteht bei Liberalen und Labour-Party die Gefahr, dass sie sich gegenseitig im Weg stehen und die Tories als lachender Dritter in Erscheinung treten.

Konkurrenz nützt Konservativen

Ein ähnliches Problem trat bereits beim US-Präsidenschaftswahlkampf 2000 zwischen Al Gore und Ralph Nader auf. Der amerikanische Verfassungsrechtler, Jamin Raskin, veröffentlichte dann im Oktober 2000 einen Artikel, in dem er die Möglichkeiten für einen digital vermittelten Stimmenhandel skizzierte. Ziel war es, den beiden "linken" Kandidaten aus dem Dilemma ihrer direkten Konkurrenz zu helfen. "Potenzielle Wähler des Grünen Ralph Nader sowie Gore-Anhänger waren die Zielgruppe dieser Aktionen: im Gegenzug für die Unterstützung des Vizepräsidenten in den hart umkämpften 'Battleground States' hatten die Anhänger des demokratischen Kandidaten in sicher gewonnen oder verloren geglaubte Bundesstaaten Naders Grünen zum Sprung über die 5%-Hürde helfen sollen", analysierte Christoph Bieber auf Politik-digital.de.

Raskin löste damals eine Welle von praktischen Umsetzungsversuchen aus. Zahlreiche Internetplattformen wie, Voteswap.com, Nadertrader.org, Swapvote.com), Voteexchange.com etc., forcierten "Vote-swapping" und versuchten taktische Wähler zu vernetzen.

Politischer Handel auf Massenbasis

Auch wenn sie Bush schließlich nichts anhaben konnten, war die erzeugte Resonanz doch erstaunlich. Allein Nadertrader.org verzeichnete weit über 700.000 Zugriffe. Verstärkt durch das Medienecho beförderten diese Plattformen etwas ins allgemeine Bewusstsein, was in den hehren Zirkeln der Politik ohnehin usus ist. Der tägliche politische Kuhhandel um Mehrheiten ist ein Wesenszug der Demokratien. Mit diesem Argument verteidigte sich auch Raskin. "'Dies ist ein Projekt für Menschen, die das Wählen als wesentlich strategisches Verhalten verstehen, aufgrund dessen wir uns auf die politischen Ergebnisse und Bedeutungen der wirklichen Welt konzentrieren müssen.' Für Raskin handelt es sich dabei um keinen Handel mit Wählerstimmen in irgendeiner Weise, sondern es sei 'die höchste Form demokratischer Politik, seine Mitbürger über ihre Wahlentscheidungen zu befragen.' Auch Abgeordnete tauschen oft ihre Stimmen, wenn sie ausmachen, dass sie für ein Gesetz stimmen, wenn andere dafür für ein von ihnen vorgeschlagenes Gesetz stimmen: 'Wenn dies illegal wäre, dann würde der ganze US-Kongress ins Gefängnis kommen.'", berichtete damals Telepolis (Strategisches Wählen über das Internet).

Gewissen Machtträgern erschien soviel Einsatz für die Durchsetzung der "popular vote" suspekt. Der kalifornische Staatsministers meinte, dass jeglicher Handel mit Wählerstimmen den Tatbestand des Wahlbetruges erfülle und somit gleich mehrere Paragraphen des Wahlgesetzes verletze. Zudem läge darüber hinaus eine strafrechtlich zu verfolgende kriminelle Verschwörung vor. Die direkt beschuldigten Betreiber der Websites Voteswap2000.com und Votexchange2000.com gingen in die Knie und gingen offline.

Attacken von Tories und Hackern

Aufregung über Tacticalvoter.net gab es natürlich auch in Großbritannien. Gegenüber der virtuellen Nachrichtensprecherin Ananova vermutete eine Sprecherin der Tories ein Komplott der Liberalen oder Labour Party und urgierte ein Eingreifen der Wahlaufsichtsbehörde. Die Panik bei den Konservativen ist verständlich. Jüngsten Umfragen zufolge liegt Tony Blair - mangels relevanter Alternativen - in der Wählergunst weit vorne. Würden die Tories dann auch noch Sitze im Unterhaus aufgrund der taktischen Wähler verlieren, wäre das ein weiterer Dämpfer.

Ein Redakteur des Daily Telegraph, der den Konservativen William Hague bei einem Wahlkampfauftritt in Kingston und Surbiton begleitete, konnte sich dann auch eine spitze Bemerkung nicht verkneifen. Hague würde Wähler brauchen, die "taktische Apathie" praktizieren, schrieb er.

Anregende politische Dating-Agency

Die Attacken von Seiten der Tories tangieren Buckley nicht sonderlich. Er gehöre keiner Partei an, hätte aber zugegebener Maßen eine tiefe Abneigung gegen die Konservativen, verlautete er provokant. Seine Webplattform biete primär Information für ähnlich Gesinnte und verstehe sich als politische "Dating-Agency". Selbst einen Hackerangriff überstand er bereits. Am 30. Mai war die Site kurzfristig lahmgelegt. Jetzt funktioniert sie aber wieder störungsfrei, teilte man Telepolis mit, und ist über zwei verschiedene Adressen abrufbar. Finanziert wurde Tacticalvoter.net übrigens mit 5.000 britischen Pfund, die zur Unterstützung von Rowntree Reform Trust Ldt, eine für eine Wahlrechtsreform kämpfende Organisation, beigesteuert wurden.

Selbst wenn Buckley's Wunschziel, zehn Tories das Mandat abzuknöpfen, nicht realisiert wird, haben diese Aktion ebenso wie die Vote-swapping-Plattformen in den USA gezeigt, dass es allen Unkenrufen zum Trotz neben dem steigenden politischen Desinteresse ein nicht zu unterschätzendes Bedürfnis gibt, sich politisch auszutauschen. In den Vereinigten Staaten hielten viele dieser Plattformen ihre Pforten bis weit über den Wahltag hinaus geöffnet und entwickelten sich zu politischen Diskussionsforen, die vereinzelt bis heute aktiv sind.