Talibananschlag: "Wir haben sechs Selbstmordattentäter in die Schule geschickt"

Pakistan: In der Millionenstadt Peschawar ermorden militante Taliban über hundert Schüler einer von der Armee unterhaltenen Schule

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Die Militäroperation in Peschawar sei beendet, meldet die englisch-sprachige pakistanische Zeitung The Dawn. Es gebe keine gewalttätigen Militanten mehr auf dem Schulgelände, habe die Armee erklärt. Als vorläufige Bilanz des Terroranschlags gibt man mindestens 131 Tote an, die meisten davon Jugendliche und Kinder.

Peshawar liegt im Nordwesten Pakistans unweit des Kyberpasses, des berühmten Grenzübergangs nach Afghanistan, in allernächster Nähe zu den Stammesgebieten.

Keine Kontrolle in Peschwar

Die Stadt war in den 1980er Jahren berüchtigt als Hochburg für Geheimdienstaktivitäten, Waffen-und Drogenhandel, ein gefährliches Pflaster mit undurchsichtigen Verhältnissen; allein die von jeglicher staatlichen Aufsicht unbehelligten, weitläufigen Zonen am Rand der Stadt, wo mehrere hunderttausend Flüchtlinge aus dem Nachbarland hausten und wo der lukrative Handel betrieben wurde, zeigten dem Besucher an, dass Kontrolle an diesem Ort anders funktionierte als üblich. Auf Hotelterassendächern waren westliche Touristen, die im Heroin-oder Opiumrausch bewegungslos herumlagen, ein alltägliches Bild.

Seit einigen Jahren ist Peschawar zu einer Hochburg der Taliban geworden, obwohl die Armee dort präsent ist, u.a. mit einem wichtigen Luftwaffenstützpunkt. Allerdings führten Taliban-Gruppen und Warlords seit Mitte des letzten Jahrzehnts durch Anschläge immer wieder neu vor Augen, wie groß ihre Macht ist.

Machtfaktor Taliban, Doppelspiel der Armee

Wie sich die pakistanischen Taliban (Tehrik-i-Taliban Pakistan, TTP) zu einem Machtfaktor entwickelten, der das Kräfteverhältnis in Pakistan im letzten Jahrzehnt veränderte, lässt sich sachkundig und anschaulich in einer Zusammenfassung des früheren Asia-Times-Pakistankorrespondenten Syed Saleem Shahzad (2011 durch einen Anschlag getötet) nachlesen: Vom Aufstand zum Krieg.

In der jüngeren Vergangenheit wurde der pakistanischen Armee in diesem Zusammenhang von vielen Seiten ein doppeltes, machtpolitisches Spiel vorgeworfen: Dass sie offiziell die TTP als Feind deklarierte, nicht zuletzt aus außenpolitischen Verpflichtungen gegenüber Afghanistan und den USA, inoffizell aber ein ausgebautesVerbindungsnetzwerk pflege und die pakistanischen Taliban als Mittel einer clandestinen, anderen Außenpolitik gebrauchte.

Als die Armee - nach jahrelangem Drängen der USA - sich im Juni dieses Jahres dazu entschloss, ernsthaft militärisch gegen die Taliban in Nordwaziristan vorzugehen, wurde dies als deutliches Zeichen eines Bruchs in den Beziehungen zwischen Armee und Taliban gesehen. Manche, wie den im Westen bekannte Autor Ahmed Raschid, sehen darin eine wichtige Basis für eine Besserung der Situation in Afghanistan und einen erfolgreichen Kampf gegen al-Qaida und andere Terrorgruppen.

Der TTP-Sprecher Muhammad Khorasani stellt die Lage demgegenüber aus einer anderen Sicht dar:

Die pakistanische Armee steckt mit unseren Feinden unter einer Decke.

Die Rache

Mit diesen Worten rechtfertigte der TTP-Sprecher über 130 Tote, die heute ein Angriff von pakistanischen Taliban auf eine von der Armee unterhaltene Schule in Peschawar zur Folge hatte. "Es ist ein Racheakt für die Armeeoffensive in Nordwaziristan", wird der Taliban-Sprecher in pakistanischen Zeitung Dawn wiedergegeben. Im Guardian findet sich eine weitere Aussage von Khorasani:

Das ist eine Realktion auf das Töten unserer Kindern und der Mudschahedin in verschiedenen Teilen unseres Landes. Wir haben sechs Selbstmordattentäter in die Schule geschickt (…) und ihnen gesagt, dass sie die kleineren Kinder verschonen sollen.

Mindestens 100 tote Kinder ist die Bilanz am Dienstagnachmittag, die in der pakistanischen Zeitung Dawn zu lesen ist, manche Angaben sprechen von sogar 140 Jugendlichen und Kindern, ohne Altersangaben. Die Schule liegt in einem der besseren Viertel in Peschwar, wo man sich sicherer fühlte. Kinder von pakistanischen Militärs und aus einer gehobenen Mittelklasse besuchen die Schule, heißt es im Guardian.

They have hit at the heart of the nation, but let me reiterate they can't in any way diminish the will of this great nation.

AsimBajwal, Armeeangehöriger

Die Ziele des Terroranschlags sind unverkennbar. Er hat die Taliban wieder in die Schlagzeilen gebracht, mit einer monströsen Aktion, die die Militärs an einer sehr schmerzlichen Stelle verletzt, sie demoralisieren soll - der Anschlag fand zum Jahrestag der Kapitulation der pakistanischen Armee in Bangladesh statt) -, der ihnen vorführt, wie verwundbar sie sind und wie wenig sie gegen die Taliban ausrichten können.

Der Anschlag zeigt auch, wie wenig die Taliban von der Schule halten. Der Taliban-Experte Ahmed Rashid ist davon überzeugt, dass der Terrorakt zuletzt auch gegen die Prominenz und das Engagements der Friedennobelpreisträgerin und Kinderrechtlerin Malala Yousafzai gerichtet ist, die selbst Opfer eines Talibananschlages war (Das Mädchen Malala, die Mullahs und die Gunst der Stunde). Möglich ist das, die Taliban haben sich - wie andere radikalislamische Gruppen, insbesondere Boku Haram auch - bislang nicht als Freunde von Schulbildung für Mädchen hervorgetan, sondern versucht, sie mit brutalen und tödlichen Mitteln davon ferngehalten.

Plausibel ist allerdings auch ein anderes Motiv: Dass die pakistanische Taliban, die nun länger im Schatten der Berichterstattung der IS-Milizen standen, sich mit einer spektakulären Terroranschlag neue Aufmerksamkeit sichern wollten, der Zeitpunkt war gut gewählt (siehe oben); an einer solchen Aufmerksamkeit hängen auch Geldströme.