Terrorabwehr und Staureduktion

Die Londoner Stadtregierung will durch das neue Mautsystem zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen

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Wer in die Londoner Innenstadt per Auto will, muss seit Anfang der Woche 5 GBP ( 7,5 EUR) zahlen. 800 zusätzlich aufgestellten Kameras sollen die Durchsetzung des Mautsystems gewährleisten. Sie erfassen allerdings nicht nur Fahrzeug-Kennzeichen, sondern auch die Gesichter der Lenker. Die Daten können direkt an Polizei und Geheimdienste weitergeleitet und mit Verbrecherdatenbanken abgeglichen werden. Gegen diese "Zusatzfunktion" des Systems laufen Datenschützer Sturm.

Ken Livingstone, der "rote" Londoner Bürgermeister ohne eigenen Führschein, sieht sich gerne als Visionär. Mit der "Stau-Steuer" will er der notorischen Verstopfung in der Londoner Innenstadt zu Leibe rücken. 800 Kameras wurden zur Überwachung der 21 Quadratkilometer großen Zone platziert. Wer passieren will, wird elektronisch erfasst. Damit soll festgestellt werden, ob bezahlt wurde oder nicht.

Die verwendeten Infrarot-Systeme erfassen die Autokennzeichen. Allerdings werden zusätzlich auch ganz normale, schwenkbare Videokameras eingesetzt, die Bilder zur Identifizierung des Fahrzeugs und deren Lenker liefern können, falls das Nummernschild nicht lesbar ist oder absichtlich verdeckt wurde. Letzteres, zumal bereits Wochen vor Einführung der kontrovers diskutierten "Anti-Stau-Abgabe" der Internet-Handel mit automatischen Abdeckungen aufblühte.

Doch nicht nur Autofahrer regen sich über die Gebühr auf. Auch Datenschützer und Bürgerrechtler steigen inzwischen auf die Barrikaden. Denn kurz vor Einführung des Systems wurde bekannt, dass eine eigene Gesichtserkennungs-Software eingesetzt wird. Aufgrund der spezifischen Abrechnungsmodalitäten und den langen Laufzeiten bei der Erhebung von Mautsündern kann davon ausgegangen werden, dass Videoaufzeichnungen zumindest einige Wochen lang aufgehoben werden. Die Datensätze können an Polizei und Geheimdienste weitergeleitet und mit dort existenten Datenbanken abgeglichen werden. Die Möglichkeit des Rasterns der großen Datenmengen, die das System produziert, empört Bürgerrechtler wie Gareth Crossman von Liberty UK. Gegenüber dem britischen Observer beklagte er:

"Uns wurde erzählt, dass das Mautsystem für einen ganz bestimmten Zweck eingesetzt wird und jetzt müssen wir herausfinden, dass es auch für einen ganz anderen verwendet wird. Das ist ein gefährlicher Präzedenzfall."

Das auf Sammelklagen spezialisierte Anwaltsbüro Class Law kündigte ebenfalls rechtliche Schritte im Zusammenhang mit dem Sammeln und der Weitergabe von Daten an.

Die Firma Capita, welche die Software für das Mautsystem entwickelte, betonte hingegen, dass man strikt auf die Einhaltung von Datenschutzgesetzen achten und sensible Daten nicht weitergeben würde.

Rückendeckung für die Doppelfunktion des Systems kommt von Seiten der Terrorismusforscher. Dr. Magnus Ranstorp von der St. Andrews-Universität sagte, dass diese Maßnahme Attacken mit Autobomben verhindern könnte. Er räumte jedoch ein, dass die Systeme zwar wichtige Informationen liefern könnten, jedoch nicht 100 Prozent fehlerfrei arbeiten würden.

Frühere Pilotversuche mit Gesichtserkennungs-Software in den USA haben zahlreiche Fehlleistungen hervorgebracht. So gerieten völlig unbescholtene Bürger ins Visier der Sicherheitsbehörden. Teilweise wurden die Versuche aufgrund der hohen Fehlerraten auch wieder eingestellt.

Nach Bekanntwerden der Zusatzfunktion des Mautsystems schwieg sich Ken Livingstone einige Tage lang aus. Medienberichten zufolge bekannte er sich aber inzwischen zum Einsatz in der Terrorismus- und Verbrechensprävention. Für Verbrecher würde es jetzt wesentlich schwieriger in die Londoner Innenstadt zu gelangen. Der Londoner Bürgermeister denkt bereits an eine Ausweitung der überwachten Zone. Das wird allerdings nur dann passieren, "wenn das System erfolgreich ist und Livingstone wieder gewählt wird", wie der "Observer" sarkastisch vermerkte. Das 300 Millionen Euro teure Projekt könnte für Livingstone aber auch durch die Kosten zum Problem werden, wenn der Trend anhält. Die ersten beiden Tage sind jeweils 60.000 Autos weniger als sonst in die Gebührenzone gefahren, doppelt soviel als eigentlich erwartet. Das würde 150.000 Euro weniger als erwartet pro Tag in die Kasse bringen. Mit den Gebühren soll nicht nur das teure System bezahlt und betrieben werden, sondern auch die Verkehrsinfrastruktur Londons verbessert werden. Sollte sich das System rechnen, planen weitere britische Städte die Einführung.