"Theorien sind Spiegel der Gesellschaft"

Dirk Baecker über Systemtheorie, Pragmatismus und die Agenda 2010

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In seinem Buch Wozu Theorie? geht der Soziologe Dirk Baecker den Schwierigkeiten, Widerständen und Fallstricken der Theoriebildung nach, kennzeichnet sie aber auch als positives Element und unverzichtbaren Bestandteil der modernen Gesellschaft.

Herr Professor Baecker, inwiefern hilft Systemtheorie bei der Frage: Wozu Theorie?

Dirk Baecker: Die Systemtheorie gilt als eine sogenannte autologische Theorie. Das heißt, sie wendet jede mögliche Erkenntnis über die Welt auch auf sich selbst an. Sie ist selber ein System in der Auseinandersetzung mit einer Umwelt, die sie so sieht, wie sie sie sieht. Und das gilt für jede Theorie. Jede Theorie sieht nur, was sie sieht, und sieht nicht, was sie nicht sieht. Die einfachste Antwort auf die Frage Wozu Theorie? lautet dann: Eine Theorie ist die explizite Beschäftigung mit den Einschränkungen der eigenen Annahmen, Einsichten und Erklärungen. Das Wissen um Einschränkungen ist dabei kein Grund zur Verzweiflung, sondern ganz im Gegenteil die Grundlage für ein Wissen um eine Welt, die Überraschungen bereit hält, weil es genügt, die eigenen Annahmen zu variieren, um bereits etwas anderes zu sehen zu bekommen.

Wozu also Theorie? Um nicht nur zu wissen, sondern auch zu wissen, was man weiß, und zu wissen, was man nicht weiß. Mit der Anwendung der Systemreferenz auch auf Theorien macht die Systemtheorie diese Funktion von Theorie nur explizit. Darüber hinaus hat sie jedoch auch einen Blick für Systeme, die Theorien "anwenden" und dabei deren einschränkenden Status vergessen. Das gilt für wissenschaftliche Disziplinen, die ihre eigenen Axiome mit ihrem Gegenstand verwechseln und dann zu "Schulen" oder gar zu "Ideologien" degenerieren. Es gilt aber auch für andere soziale Systeme, die Gründe haben mögen, keine Theorien über sich selbst zu pflegen, weil sie über andere Formen des kritischen Umgangs mit sich selber verfügen, etwa die stillschweigende Änderung, den Wechsel einer Strategie, die Konkurrenz oder die Innovation.

Eine "Theorie" mit ihren hochgetriebenen Ansprüchen an die explizite Beobachtung der eigenen Annahmen und das explizite Auswechseln der Annahmen, wenn sie sich nicht bewähren, würde hier zu viele Ressourcen in Anspruch nehmen. Selbst in der Wissenschaft leistet sich jede Disziplin immer nur einen verschwindenden Prozentsatz von Leuten und Projekten, die sich mit Theorien beschäftigen. In der Soziologie zum Beispiel kann man "Theoretiker" an den Fingern weniger Hände abzählen.

"Theorie ist selber Praxis"

Wie ist die Beziehung zwischen Theorie und Praxis?

Dirk Baecker: Vielfältig. Die Theorie ist selber eine Praxis. Sie muss ja ausgeübt, durchgeführt, erprobt und verändert werden. Das sind praktische Operationen. Umgekehrt enthält auch die Praxis eine Theorie. Sie arbeitet mit Annahmen, die mal überprüft werden, mal nicht, je nachdem, auf welche Widerstände die Praxis stößt. "Theorien" können daher sehr unterschiedliche Formen annehmen, die oft implizit bleiben, nicht zuletzt, damit sie unauffällig geändert werden können. Von dieser Praxis unterscheidet sich die explizite Theorie nur insofern, als sie versucht, die Widerstände zu protokollieren und in der Auseinandersetzung mit diesen Widerständen ihre eigenen Annahmen selbst zum Gegenstand der Forschung zu machen.

Eine Theorie ist eine praktische Übung des Umgangs mit Annahmen, die sich bewähren oder nicht. Das kann, muss aber nicht, in der Form von Texten, Formeln, Bildern und Modellen geschehen. In jedem Fall jedoch rechnet die Theorie mit einer Praxis, die ihre Motive, Mechanismen und Exklusionen nur unzureichend sehen lässt und dafür gute Gründe haben mag. Die Beziehung einer Theorie zu einer Praxis ist das Angebot einer Aufklärung, die sich darüber Rechenschaft gibt, dass auch eine Aufklärung Grenzen hat.

"Eine Theorie ist immer wahr-falsch"

Was ist ein gutes Kriterium um nachzuprüfen, ob eine Theorie wahr oder falsch ist?

Dirk Baecker: Nur einzelne Annahmen sind entweder wahr oder falsch. Eine Theorie ist immer beides, sie ist wahr-falsch. An der Systemtheorie sieht man das sehr gut. Sie startet mit der falschen Annahme, dass es Systeme gibt, denn wer hätte je ein System gesehen? Dass es Systeme "gibt", ist ein Axiom, das sich erst bewährt, wenn man nachweisen kann, dass es Operationen von organischen, mentalen oder sozialen "Systemen" gibt, die man nur erklären kann, wenn man annimmt, dass sie rekursiv, das heißt vor- und zurückgreifend, aufeinander Bezug nehmen. So erklärt man Eigendynamiken, Pfadabhängigkeiten, Selbstorganisation, aber auch den Umgang mit Störung, Irritation, Krisen und Katastrophen.

Die Theorie wird also richtig, indem man erfolgreich mit ihr arbeitet. Die dem Augenschein widersprechende, sich der empirischen Überprüfung entziehende, also "falsche" Ausgangsannahme bewährt sich. Eine wahr-falsche Theorie orientiert sich an eigenen Kohärenz- und Konsistenzansprüchen, um sich mit den inkohärenten und inkonsistenten Sachverhalten der von ihr in den Blick genommenen Wirklichkeit zu beschäftigen.

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